Seite - 35 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Fragenhorizont | 35
Weltkrieg nicht ab, sondern koalierte erheblich mit den wie auch immer sich im
Detail präsentierenden Kriegserzählungen der Nachkriegszeit. In den 1920er- und
1930er-Jahren gewann dieser Mythos auch in der Republik Österreich (bis 1919
Republik Deutsch-Österreich) „als konservative Meistererzählung an Konsistenz“,
die als solche zunehmend eine erinnerungshegemoniale Stellung einnahm.99 Aus
der Retrospektive sieht man sich daher mit einem politisch massiv aufgeladenen
Begriff konfrontiert, weswegen Teile der Augustforschung den Begriff „Auguster-
lebnis“ nur mehr zur Analyse der „Zwischenkriegszeit“ und der NS-Zeit, nicht
aber zur Erforschung des Kriegsbeginns heranziehen.
Fragenhorizont
Die hier formulierten Fragen gehen den sich verändernden Erwartungshorizon-
ten, Erfahrungsräumen und Erinnerungen (an die Vorkriegszeit) der Grazer Be-
völkerung in den Wochen rund um den Kriegsbeginn 1914 nach. Das daraus ins
Unendliche sich öffnende Fragenmeer wird mittels zweier Fragenbereiche einge-
grenzt, die sich wiederum in mehrere (von vornherein gestellte sowie sich erge-
bende) Teilfragen gliedern lassen. Die beiden Fragenbereiche formieren sich zum
einen um die mannigfaltigen Aspekte des Kriegsausbruchs (und Kriegseinbruchs)
in Graz sowie zum anderen um die unterschiedlichen Facetten der Einheitsbildung
(gemeint ist hier der Burgfrieden).100 Dadurch werden zentrale Alltagsmomente
type reduzieren. Durch ihre normative Deutung der Gegenwart aus der Vergangenheit legitimie-
ren sie Ansprüche, begründen Autorität, fördern Integration, stiften Identität und stimulieren
Handlungen. Sie erklären bestimmte Werte und Normen zu ewig gültigen Maßstäben, die es zu
erfüllen, nicht zu erreichen gilt.“ Gemäß dieser Definition lässt sich sehr wohl von einem „My-
thos“ in puncto allgemeiner Kriegsbegeisterung sprechen.
99 Überegger (2011), 22 f.
100 Ich unterscheide nicht kategorisch zwischen dem „katastrophalen“ Kriegseinbruch (die griech.
Vorsilbe „katá“ steht für „herab“ und „nieder“) und dem „eruptiven“ Kriegsausbruch (das lat.
„eruptio“ bedeutet u.
a. „Ausbruch“). Für mich meint der Begriff „Kriegseinbruch“ weder das von
„außen“ kommende „Böse“, das auf den unschuldigen und passiv-erduldenden Menschen trifft.
Noch bedeutet für mich der Begriff „Kriegsausbruch“ das schuldig-aggressiv Aktive, das das
„Böse“ von „innen“ heraus in die Welt trägt. Für mich gilt bezüglich der Frage, ob das Wasserglas
halb voll oder halb leer ist (ob es eine Mikro- und eine Makroebene gibt), die Bruno Latour’sche
Prämisse: „Kein Ort ist beherrschend genug, um global zu sein, und kein Ort ist selbstgenügsam
genug, um lokal zu sein.“ Aus: Latour (2010), 352. Gleichwohl ich hier auf Latour verweise, so
schreibe ich keine (wie auch immer konzipierte) Netzwerkanalyse. Einen Einstieg in Latours Ak-
teur-Netzwerk-Ansatz (Entstehung, Rezeption, Neuansätze, Kritik etc.) bieten: Kneer/Schroer/
Schüttpelz (2008).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453