Seite - 423 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Schlussbetrachtung
Stadtlandschaft im „Volkskrieg“
In den folgenden Kapiteln fasse ich die aus meiner Sicht wesentlichen Züge des
Grazer Alltags zu Kriegsbeginn 1914 zusammen und stelle sie in Bezug zu eini-
gen theoretischen Überlegungen von Bernd Hüppauf. Dadurch wird eine (weitere)
Abstraktionsebene geschaffen, die zeigt, wie man sich der Grazer „Heimatfront“1
konzeptionell (von einer bestimmten Seite her) annähern kann.2 Dieses im Nach-
hinein erstellte Konzept erhielt von mir in Anlehnung an Bernd Hüppauf die Be-
zeichnung „Stadtliniengewirr“ und es bündelt meines Erachtens die Antworten
auf die beiden Fragenbereiche – Kriegsausbruch/Kriegseinbruch (1) und Einheits-
bildung (2) – in nachvollziehbarer Weise.3 Im Kern verstehe ich unter dem „Stadt-
liniengewirr“ den Umstand, dass in Graz die kleineren und größeren Fronten zwi-
schen diversen Gruppen quer durch die Stadt (quer durch den Alltag) verliefen.
Das erscheint mir rückblickend deswegen so wichtig, weil das tägliche Fragen und
Abschätzen, wer ein Feind ist und wer nicht, wo die Front verläuft und wo nicht,
eine zentrale und erst von Situation zu Situation zu erlernende Alltagsqualifika-
tion wurde. Das Erlernen dieser Alltagspraxis stellt für mich eine der wichtigsten
Reaktionen auf den Beginn des „Volkskriegs“ dar. Schließlich wurden sämtliche
Alltagserscheinungen von verschiedenen Seiten auf ihre „Einheitstauglichkeit“
geprüft. Man sprach von der „praktischen Übung patriotischer Pflichten“.4 Nicht
alle bestanden diese sogenannten Einheitsprüfungen. Und einige Male fielen die
Einheitsprüfungen für ein und denselben Sachverhalt – für ein und dasselbe All-
tagsmoment – unterschiedlich aus. Dem war so, weil es nicht das eine „Gesetz“ der
„Heimatfront“ gab. Stattdessen gab es viele und teilweise entgegengesetzte Ansich-
1 Der Begriff „Heimatfront“ wurde im Krieg nur selten gebraucht, siehe das Kapitel: Vier Leitpano-
ramen.
2 Ich orientiere mich hierbei an Jürgen Kocka: Historische Theorien sind explizite und konsistente
„Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Erschließung und Erklärung von bestimmten histo-
rischen Phänomenen und Quellen dienen, aber nicht hinreichend aus den Quellen abgeleitet
werden können.“ Aus: Kocka (1975), 9.
3 Abseits Bernd Hüppaufs Arbeiten inspirierten mich, wie gesagt, die Governmentality & Surveil-
lance Studies, vgl. Gertenbach (2012); Hempel (2012).
4 Leoben-Donauwitz, in: Arbeiterwille, 6.8.1914, 5.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453