Seite - 412 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen412
tagshandeln eines Menschen durch ein Konformitätsdruck erzeugendes Anführen
seiner persönlichen Angaben präzisierte. Letztendlich wurden die „Patrioten“ auf
traditionelle Weise gelobt und die „unpatriotischen“ Diebe sowie Betrüger wurden
gesucht und getadelt.
Verbliebene „Kriegsfreizeit“
Die Wirren der ersten Kriegsmonate führten in mehrfacher Hinsicht dazu, dass
das Angebot an freizeitlichen Aktivitäten (anfänglich) auf ein Minimum be-
schränkt blieb. Liest man sich die Zeitungen und Zeitschriften durch, finden sich
dort nur wenige Vorschläge, wie man abseits der Arbeit und des Schlafens seine
Zeit – im vorkriegszeitlichen Sinne – erholsam gestalten könnte. Das hat mehrere
Gründe. Zunächst einmal arbeiteten diejenigen Menschen, die einer Erwerbsar-
beit nachgehen konnten bzw. mussten, sehr lange. Zumindest länger als in den
(österreichischen) Nachkriegsjahren.858 Für eine wie auch immer gestaltete und
meist mit Kosten verbundene Freizeitbeschäftigung blieb daher wenig Zeit. Selbst
die Arbeitszeiten in den Betrieben und Geschäften, in denen man aufgrund von
Einberufungen, Auftragsstornierungen oder anderen produktionshemmenden
Faktoren kürzer arbeiteten musste, fielen teilweise höher als die der Nachkriegszeit
aus. Und dort, wo man eben „Kurzarbeit“ eintreten ließ, mussten sich die betroffe-
nen Arbeiterinnen und Arbeiter nach einer zusätzlichen Verdienstmöglichkeit
umsehen (Sie konnten es sich somit nicht leisten, einer Freizeitbeschäftigung
nachzugehen). Zieht man die Stunden, in denen man einer Erwerbsarbeit nach-
ging, vom 24-Stunden-Tag ab, blieb daher am Ende nicht viel Zeit für den notwen-
digen Schlaf oder für eine erholsame Freizeitgestaltung. Die Zeit, in der eine Frei-
zeitbeschäftigung überhaupt möglich war, belief sich auf schätzungsweise vier bis
sechs Stunden am Tag. Diese kriegsbezogene Überformung der – in vielerlei Hin-
sicht bereits lange vor 1914 politisierten – Freizeitgestaltung wird ersichtlich, wenn
man sich vor Augen führt, was die Grazerinnen und Grazer abseits des Arbeitens
und des Schlafens überhaupt tun konnten bzw. tun mussten. Ein Gutteil dieser zur
Verfügung stehenden „Kriegsfreizeit“ beanspruchte das Bestreiten des Kriegs-
alltags.859 Diese Tag für Tag aufs Neue zu bewerkstelligende Tätigkeit forderte An-
858 In den meisten Branchen arbeitete man zwischen 9 und 11 Stunden pro Tag. Nur sehr wenige Be-
triebe führten bereits vor 1918 den Achtstundentag ein (z.
B. der Glanzkohlebergbau Seegraben).
859 Wie das notwendige (und kostspielige) Einrichten auf den Krieg und das (oft unentgeltliche)
Wirken für den Sieg im Rahmen der Kriegsfürsorge oder der Aufrechterhaltung von „Ruhe und
Ordnung“ (Transportkolonne am Bahnhof, Grazer Frauenhilfskomitee, Arbeiterhilfskorps für
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453