Seite - 138 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
Bild der Seite - 138 -
Text der Seite - 138 -
| Innenstadt und
Bahnhof138
schreiben oder nach Wien fahren. Im Endeffekt spiegelte das eingeschränkte Te-
lefonnetz eine zentrale Facette des Grazer Alltags dieser Tage wider. Der Wunsch
nach zuverlässigen Informationen über den Verbleib von Verwandten und Bekann-
ten sowie prinzipiell über den Krieg war enorm groß. Der Zugang zu glaubwürdi-
gem Nachrichtenmaterial war hingegen beschränkt. Die Post und Presse wurden
zensiert und das Telefon konnte nur mehr an bestimmten Orten in Anspruch ge-
nommen werden. Zu diesen Orten zählten etwa jene Gast- und Kaffeehäuser, die
Privatpersonen die entgeltliche Benützung ihres Telefons gestatteten. Obendrein
lagen dort mehrere Zeitungen und Zeitschriften auf. Das Nachrichtenbedürfnis
stillten die Grazer und Grazerinnen nicht allein mit Zeitungen, Korrespondenzen,
Telefonaten und durch Befragen von Leuten auf der Straße, sondern sie strömten
auch zu den Grazer Zeitungsredaktionen.
Abbruch der diplomatischen Beziehungen
Gegen Frühabend des 25. Juli bildeten sich am Grazer Hauptplatz sowie vor den
zentral gelegenen Zeitungsredaktionen immer größer werdende Menschenmen-
gen.15 Ob sich auch vor dem im Bezirk Lend stehenden Redaktionsgebäude des
Arbeiterwillens eine Menschenmenge formierte, konnte ich nicht eruieren. Weder
der Arbeiterwille noch die anderen Zeitungen äußerten sich diesbezüglich. Dass
man im Falle eines enormen Nachrichtenbedürfnisses zu den Zeitungsredaktio-
nen ging oder dort anrief, zeigte sich im verminderten Maße bereits am Tag des
Sarajevoer Attentats. Das Radio und den Fernseher gab es damals noch nicht und
wie schnell das Telefonkabel zu einer „Waffe“ im Ersten Weltkrieg wurde, erkennt
man bereits daran, dass Großbritannien unmittelbar nach seinem Kriegseintritt
das Atlantikkabel zwischen dem europäischen Festland und dem nordamerikani-
schen Kontinent kappte.16 Nun, am 25. Juli, erfuhren der Gang in die Innenstadt
sowie der Griff zum Telefonhörer eine enorme Steigerung, zumal um 18 Uhr das
Ultimatum an Serbien endete. Laut eines Korrespondenztelegramms aus Graz, das
in der Neuen Freien Presse (Wien) abgedruckt wurde, versuchte eine „vielhundert-
15 Tagespost (Stempfergasse), Tagblatt (Radetzkystraße), Volksblatt sowie Kleine Zeitung (Schön-
augasse bzw. „Steyrerhof“). Die Mittags-Zeitung (Volksgartenstraße) erschien erst seit dem
19. August 1914.
16 Leonhard (2014), 144, 583. Vgl. zudem den Lexikonartikel „Kommunikationstechnik“ von Ste-
fan Kaufmann in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014), 621–624. Eine Geschichte über die öster-
reichisch-ungarische „Drahtpolitik“ (Telefon- und Telegrafennetz) liegt noch nicht vor. Wichtige
Bemerkungen hierzu finden sich in: Wagner (1987).
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453