Seite - 222 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Innenstadt und
Bahnhof222
Erste „Entscheidungsschlachten“
Die Grazer Straßen und Plätze wurden seit dem großen Truppenabmarsch aus
Graz (11. August) leiser. Selbst die leicht verregneten Kaiserfeiern, der „Denk-
malfrevel“ und die partielle Sonnenfinsternis evozierten keine spürbare Umkehr
dieses Prozesses. Erst als Anfang September die Züge mit den verwundeten Sol-
daten und Kriegsgefangenen ankamen, wurde das Straßenleben wieder für kurze
Zeit „hektischer“ und „hastiger“. Die Tage bis dahin waren dagegen von einem
stillen Warten auf die ersten Meldungen von der Front gekennzeichnet. Inmitten
dieser „Stille vor dem Sturm“ intensivierten die ersten k. u. k. Siege bei Kraśnik
und Komarów456 sowie die sich überschlagenden Siegesmeldungen der deutschen
Armee457 die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Fast alle glaubten damals noch
an den Primat der rücksichtslos-energisch geführten Militäroffensive. Man wartete
daher auf die großen Schlachten, die das Kriegsende herbeiführen würden: „Durch
kleine Gefechte wird in der heutigen Zeit kein Krieg entschieden; es müssen große,
entscheidende Schlachten geliefert werden [...].“458 Weiter hieß es in dem hier zi-
tierten Artikel: „Der heutige Kriegsapparat braucht Zeit und der technische Auf-
wand viel Arbeit und Umsicht und es wird noch geraume Zeit vergehen, bevor von
größeren Schlachten, die vielleicht in manchem Falle auch schon eine gewisse Ent-
scheidung bringen können, gemeldet werden kann.“ Derartige „Entscheidungs-
schlachten“ erkannten die Zeitungen in den Schlachten an der Marne sowie in
den Schlachten rund um Lemberg (Lviv).459 „Lemberg“ wurde in den Zeitungen
sogar als die „größte Schlacht der Weltgeschichte“ bezeichnet.460 Die stereotypen
Siegesmeldungen461 sowie die Schilderungen der gegnerischen Kriegsgräuel konn-
ten durchaus die Stimmen- und Stimmungsunterschiede innerhalb der Grazer
Bevölkerung geringfügig nivellieren. Ebenso ermöglichten sie gerade wegen ihrer
Uniformität Raum für Gerüchte und Spekulationen, die sich mindestens in einem
456 Ein Abriss über das lokale Kriegsgeschehen in: Rauchensteiner (2013), 198. Vgl. auch den Lexi-
konartikel „Lemberg“ von Günther Kronenbitter in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014), 675–
676.
457 Lüttich, Löwen/Leuven/Louvain, Chaleroi, Mons, Namur, Metz, „Tannenberg“ und Stebark.
458 Vom österreichisch-ungarischen-serbischen Kriegsschauplatz, in: Grazer Vorortezeitung,
9.8.1914, 1.
459 Die große Schlacht vor Lemberg, in: Grazer Volksblatt, 4.9.1914 (18-Uhr-Ausgabe), 1.
460 Die größte Schlacht der Weltgeschichte, in: Grazer Tagblatt, 29.8.1914 (Abendausgabe), 1.
461 Anzahl der (gegnerischen) Verwundeten, Anzahl der Toten, Anzahl der Gefangenen, Anzahl
der abgenommenen Geschütze, Anzahl der gesunken Schiffe (inkl. ihrer Tonnage), Ausmaß der
Desertionen und Meutereien, Verweise auf Versorgungsschwierigkeiten und Rückzüge der geg-
nerischen Seite usw.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453