Seite - 444 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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Schlussbetrachtung444
Vogelperspektive erkennt man zwar schnell die Richtungen der einzelnen Fron-
ten (eine bildete sich gegen Russland, eine andere gegen die „Milchpantscher“)
– aber „unten“ auf der Straße gestalteten sich die Früherkennung und die Feind-
aufklärung weitaus schwieriger. Das Lewin’sche „Vorn“ war nämlich „in der Stadt-
landschaft eine diffuse Richtung“.69 Und diese Unschärfe musste behoben werden.
Schließlich galt es im Zuge der jeweiligen Einheitsbildung, „keine Verwischungen
zwischen dem ‚eigenen‘ und ‚fremden‘ Raum durch die Anwesenheit des Fremden
im Eigenen zuzulassen.“70 Im Hinterland erwies sich jedoch das (konventionelle)
Evaluieren der Umstände und Beziehungen als schwieriger – der Frontverlauf war
„in der Stadt unscharf.“71 Von den Beispielen, die ich in der Arbeit genannt habe,
möchte ich nochmals auf den Brief eines Grazer Polen an das Tagblatt zurückkom-
men.72 Dem Brief zufolge sollte man „nicht gleich jede Slawisch sprechende Person
als Serben oder gar als Russen“ verdächtigen, „insbesondere nicht Polen, die mit
ihren slawischen Stämmen absolut nichts gemeinsam haben, auch, weil sie aufrich-
tige österreichische Patrioten sind.“73 Wenn man so etwas liest und daran denkt,
dass nicht wenige „Slawen“ grundlos auf der Straße angegriffen wurden, dann fällt
es schwer, an die Bildung einer allumfassenden „Kriegsgemeinschaft“ zu glauben.
Entscheidungshilfen
An der „Heimatfront“ gab es unterschiedliche Entscheidungshilfen, um ermitteln zu
können, wer bei der „Einheit“ mitmachte und wer nicht, wer dazu gehörte und wer
nicht. Diese Schließungs- und Abgrenzungsbemühungen nahmen verschiedenar-
tige Gestalt an und waren durch die Auswirkungen des Kriegs nicht überall im glei-
chen Ausmaß vorhanden bzw. verfügbar. Als zentrale Entscheidungshilfen galten
die Vorgaben der einzelnen Normgeber und Normgeberinnen, von denen in dieser
Arbeit hauptsächlich die Zeitungen genauer unter die Lupe genommen wurden.
Die jeweiligen Entscheidungshilfen führten zu unterschiedlichen Entschei-
dungsgeschwindigkeiten. Das Zusammenschlagen einer Person bzw. die „Lynch-
aktionen“ konnten einem (situativen) Affekt oder einem Frustabbau74 entspringen.
69 Hüppauf (1995), 325.
70 Hüppauf (1991), 110.
71 Hüppauf (1995), 325.
72 Siehe das Kapitel: Demonstrationen vor Geschäften.
73 Aus Grazer Polenkreisen, in: Grazer Tagblatt, 15.9.1914, 3.
74 Zu nennen sind hier: Die meist vergebliche Suche nach tatsächlich Schuldigen. Das Ausbleiben
von individuellen und/oder staatlichen Erfolgen.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453