Seite - 88 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Sarajevoer Attentat und
Graz88
Intensive Julipolemik
Den zentralen Einschnitt in den Wahlkampf bildete der 28.
Juni 1914. Das Attentat
von Sarajevo (vielfach in den Zeitungen auch „Serajewo“89 geschrieben) legte das
Fundament für die neuen innen- sowie außenpolitischen Rahmenbedingungen,
was nicht bedeutet, dass der spätere „Volkskrieg“ die zwangsläufige Folge des An-
schlages war. Der Ausbruch des Kriegs war allenfalls eine von vielen Möglichkei-
ten:
„Zusammenfassend trug nicht die Verfestigung der Bündnissysteme vor 1914, sondern
im Gegenteil die unabgeschlossene Blockbildung zur Eskalation bei, weil davon wiede-
rum ein Moment der Uneindeutigkeit und Unberechenbarkeit ausging. In der Julikrise
spekulierte man immer wieder über die Möglichkeit, die Bündnisse aufzubrechen und
einzelne Akteure aus dem Konflikt herauszuhalten, so in der österreichischen Hoffnung
auf Zurückhaltung Russlands bei Übergabe des Ultimatums an Serbien oder in der deut-
schen Hoffnung auf die britische Neutralität bei einem deutschen Angriff auf Frankreich
und Belgien.“90
Infolge des Attentats verschärfte sich die politische Rhetorik der Tageszeitungen
zunehmend. Es entstand eine „Pressepolemik“91, die entlang traditioneller Front-
stellungen verlief: sozialdemokratisch gegen bürgerlich und katholisch-konserva-
tiv gegen deutschnational. Das Ausmaß an Vorwürfen und Unterstellungen war
kaum steigerungsfähig und aus der Retrospektive erscheint es erstaunlich, dass
gegen Ende Juli überhaupt eine lose Einheitsbildung zwischen den politischen Mi-
lieus zustande kommen konnte. Die im Zuge dieser Pressepolemik artikulierten
Anschuldigungen zeigen deutlich, wie sehr es der Grazer Bevölkerung an einer ge-
samtmonarchischen Idee fehlte. Ein entsprechendes Pendant zu „Vive la France!“,
„Rule Britannia!“ oder „Deutschland, Deutschland über alles!“ gab es nicht.92 Ein
Zusammengehörigkeitsgefühl entlang des „unnatürlichen“ cisleithanischen Staa-
89 Ein nationalistisches Mordattentat auf den Thronfolger, in: Arbeiterwille, 29.6.1914 (Abendaus-
gabe), 1.
90 Leonhard (2014), 122. Allgemeines zur diplomatischen Julikrise in: Leonhard (2014), 83–127.
Zudem die Studien von Annika Mombauer, vgl. exemplarisch ihren Aufsatz „Diplomatie und
Kriegsausbruch“ in: Hirschfeld/Krumeich/Renz (22014), 1015–1019. Speziell zu Österreich-Un-
garn: Kronenbitter (2003a), 455–519.
91 Moll (2007a), 533.
92 Ich behaupte hier nicht, dass Frankreich, Großbritannien und Deutschland je „durchnationali-
siert“ gewesen wären.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453