Seite - 346 - in Graz 1914 - Der Volkskrieg auf der Straße
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| Alltag und
Einheitsprüfungen346
verbreitet hatte. Eine Frau namens Rosina Muser aus Göß entschuldigte sich dafür,
dass sie eine Familie durch verleumderisches Gerede geschädigt hatte. Gleich meh-
rere Personen aus St. Veit an der Glan entschuldigten sich dafür, dass sie über ei-
nen Lokomotivführer aus Czernowitz (Černivci) Gerüchte verbreitet hatten. Franz
Krebitz aus Wildon entschuldigte sich dafür, dass er einen bestimmten Mann einst
nachsagte, dass dieser im Sommer 1914 anlässlich der Pferdeassentierungen das
k. k. Militärärar betrogen hätte. Die Liste ließe sich problemlos erweitern, weswe-
gen sich auch anhand dieser „Warnungen“ und „Ehrenerklärungen“ zeigen lässt,
dass sich im Krieg keine gesamtgesellschaftliche „Kriegsgemeinschaft“, die frei von
politischen, nationalen, konfessionellen oder geschlechterrollenbezogenen Kon-
flikten wäre, herausbildete.
Über die „Sprachbereinigung“
In allen Kriegsstaaten wurden diverse symbolträchtige „Sprachbereinigungen“
vorgenommen. Im August 1914 etwa benannte man in Frankreich die „Avenue
d’Allemagne“ in „Avenue Jean Jaurès“ um.504 Im „Zarenreich“ wurde der Name
der Hauptstadt „St. Petersburg“ in „St. Petrograd“ umgewandelt505 und seit 1917
„stammte“ die britische Krone nicht mehr aus dem Hause „Sachsen-Coburg und
Gotha“, sondern aus dem Hause „Windsor“. Für Graz lassen sich mehrere sowohl
gelungene als auch gescheiterte „Sprachbereinigungen“ greifen. Der Wunsch, den
Alltag und die „deutsche“ Sprache von allem „Fremdländischen“ zu „reinigen“,
ging – zumindest was die Grazer Zeitungen anbelangt – von den bürgerlichen Re-
daktionen aus. Der Arbeiterwille widersetzte sich dieser Sprachpolitik, da sie aus
seiner Sicht in keinem Verhältnis zu den wirklich „wichtigen“ Dingen des Alltags
standen. Seiner Meinung nach waren die Beseitigungsempfehlungen und „Berei-
nigungsbemühungen“ schlichtweg unnötig, unangemessen, undurchführbar und
in manchen Fällen sogar kontraproduktiv. Ein Beispiel hierfür war seine Kritik
an einer von ihm nicht näher bezeichneten nordböhmischen Zeitung, die „in Er-
manglung anderer Gedanken“ ernsthaft dafür eintrat, dass man in der Adventzeit
keine Mistelzweige mehr aufhängen dürfe, da dies eine „englische Sitte“ sei.506 Für
den Arbeiterwillen waren derartige Forderungen unangebracht, weil es für ihn
Wichtigeres im Leben gab. Das Aufhängen von Mistelzweigen war für ihn bei-
504 Leonhard (2014), 222.
505 Rostovcev (2006), 185.
506 Auch eine „Wirkung des Krieges“, in: Arbeiterwille, 17.12.1914, 3.
Graz 1914
Der Volkskrieg auf der Straße
- Titel
- Graz 1914
- Untertitel
- Der Volkskrieg auf der Straße
- Autor
- Bernhard Thonhofer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln- Weimar
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20569-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 510
- Schlagwörter
- Steiermark, Weltkrieg, Styria, Landeshauptstadt, Heimatfront, Kriegsbegeisterung, Burgfrieden
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Rahmenbedingungen 15
- Sarajevoer Attentat und Graz 69
- Vom „Balkanbrand“ 1912/13 69
- Der Begriff „Begeisterung“ in der politischen Sprache 76
- Grazer Gemeinderatswahlkampf 83
- Intensive Julipolemik 88
- Der „Demarche-Rummel“ 99
- Blick nach Ungarn und „Strafexpedition“ 105
- Fallende Börsenkurse 110
- Ultimatum an Serbien 112
- Lokalisierungsfrage 116
- Verregnete Grazer Straßen im Juli 119
- Zur Trauerstimmung 122
- Innenstadt und Bahnhof 135
- Kein Telefonnetz 135
- Abbruch der diplomatischen Beziehungen 138
- Die „patriotischen“ Straßenumzüge 144
- Offengelegte Zeitungspolitik 151
- Unklare Mobilisierungsplakate 154
- Antisozialdemokratischer Demonstrationszug 162
- Grazer „Feldlager“ 166
- Die letzten Tage im Juli 170
- Großbritannien und Italien 176
- Verspätete Zeitungen in der Provinz 185
- Nach dem Truppenabmarsch am 11. August 187
- Abschiedsszenen 194
- Kaiserfeiern rund um den 18. August 206
- Ein „Denkmalfrevel“ 212
- Kriegsdauer, Kriegsausgang und Kriegstechnologie 214
- Erste „Entscheidungsschlachten“ 222
- Präventivzensur 227
- Erste „Soldatenerzählungen“ 234
- Grazer Frauenhilfskomitee 245
- Transportkolonne am Bahnhof 252
- Alltag und Einheitsprüfungen 257
- Arbeitslosigkeit 257
- Andrang auf die Geldinstitute 267
- Ausstattungsfrage und Postämter 276
- Hamsterkäufe 284
- Mietzins 299
- Kirchen und Friedhöfe 303
- Verlustlisten 318
- Infiltrierendes „Spinnennetz“ 323
- Ausschreitungen 333
- Demonstrationen vor Geschäften 340
- Über die „Sprachbereinigung“ 346
- Modeboykott 354
- Soldaten abseits der Truppe 363
- Neue Wachposten 374
- Arbeiterhilfskorps für Graz und Umgebung 387
- Pfadfinder und Wandervogel 389
- Die „Soldatenspiele“ der Kinder 398
- Diebstahl und Betrug 404
- Verbliebene „Kriegsfreizeit“ 412
- Schlussbetrachtung 423
- Anhang 453