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1. Kritik des lebensgeschichtlichen
Erzählens
Die erzählte Lebensgeschichte erfreut sich in den Sozial- und Kulturwissenschaf-
ten als empirisches Material nun schon seit mehreren Jahrzehnten zunehmender
Beliebtheit. Klara Löffler fasst die Tendenzen der letzten Jahrzehnte in den Kul-
tur- und Sozialwissenschaften knapp mit folgenden Worten zusammen: „(Auto-)
Biographisches ist populär.“1 Denn „die Gestaltung des Lebensverlaufs als einer
durchhaltbaren [sic!] Erzählung ist für die Zeitgenossen postindustrieller Gesell-
schaften zur Selbstverständlichkeit geworden. Eigene wie auch fremde Lebensge-
schichten werden erzählt und geschrieben, aufgezeichnet, fotografiert und gefilmt,
ins Netz und auf die Homepage […] gestellt.“2 Die Popularität biografischer Erzäh-
lungen geht weit über die Praxis der Sozial- und Kulturwissenschaften hinaus und
wird auch in kommerzieller Hinsicht deutlich, beispielsweise am Boom von Auto-
biografien am Buchmarkt und ihrem für Verlage und Handel erfreulichen Absatz.3
In verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen wurde es in den letzten Jahr-
zehnten bisweilen zur Mode, biografische Erzählungen ins Zentrum des For-
schungsinteresses zu stellen, nicht zuletzt, weil auf diese Weise ein gewisses Inter-
esse der Öffentlichkeit am (Forschungs-)Projekt gesichert scheint. Der Trend
wurde und wird noch immer begleitet von pauschalen Angriffen auf die Methode
der biografischen Analysen, welche – trotz fundierter Arbeitsweisen – Unwissen-
schaftlichkeit, Subjektivismus oder Theorielosigkeit kritisieren.4 Nicht nur, weil
die Methode des qualitativen Interviews lange Jahrzehnte als wenig zuverlässig für
wissenschaftliche Zwecke kritisiert wurde und teils noch immer wird, sondern vor
allem, weil diese Technik sowohl große Vorteile als auch Gefahren birgt, sollen in
diesem Kapitel die Methode des Interviews und darüber hinaus die Begriffe und
Funktionen des Gedächtnisses, der Erinnerung, des Erzählens und der Erzählung
kritisch hinterfragt und reflektiert werden. Den Abschluss bildet eine Synthese der
vorangegangenen Überlegungen mit Hauptaugenmerk auf ihre Bedeutung für die
nachfolgende Analyse und Interpretation des erhobenen Quellenmaterials.
1 Löffler, Klara: Anwendungen des Biographischen. Sondierungen in den neuen Arbeitswelten. In:
Hengartner, Thomas und Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl-
und Biographieforschung. S. 183–198. Hier S. 183.
2 Löffler: Anwendungen des Biographischen. S. 183.
3 Bönisch-Brednich, Brigitte: The story of my life. Analyse von Motivation, Struktur und Schreibstra-
tegien in neuseeländischen Immigrantenautobiographien. In: Hengartner, Thomas und Bri-
gitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung.
S. 231–248. Hier S. 232.
4 Rosenthal, Gabriele: Die erzählte Lebensgeschichte: Eine zuverlässige historische Quelle? In:
Weber, Wolfgang (Hg.): Spurensuche. Neue Methoden in der Geschichtswissenschaft. Regensburg
1992. S. 8–17. Hier S. 8.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439