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3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten
Einen wichtigen und zugleich klassischen Erzählstoff stellen Lausbuben- und
Schulgeschichten dar. Diese betont lustigen Erzählungen knüpfen an die Tradi-
tion des Schwankes an, nämlich insofern, als sie alltägliche Situationen wie bei-
spielsweise den Schulunterricht als Bühne wählen, listige Taten einer oder mehre-
rer Hauptfiguren beschreiben und als Mittel zu (mehr oder weniger) freundlicher
Verspottung genutzt werden.223 Zumindest im Rahmen der untersuchten lebens-
geschichtlichen Erzählungen handelt es sich eindeutig um eine männerspezifische
Art des Erzählens: Frauen greifen in ihren Darstellungen kaum je auf Geschichten
über Streiche oder Listen zurück. Männer hingegen, insbesondere jene Zeitzeugen,
die man in Bezug auf Ausdruck, Erzählfluss und Strukturierung der Geschichten
gemeinhin als „gute“ Erzähler bezeichnen würde, streuen derlei Anekdoten sehr
häufig in ihre biografische Erzählung ein und bemühen sich überhaupt, ihre Erzäh-
lungen unterhaltsam zu gestalten und die Zuhörenden zum Lachen zu bringen.
Die Lausbuben- und Schulgeschichten wurden aus allen schwankartigen
Erzählungen herausgegriffen und zusammengefasst, weil sie den quantitativ am
häufigsten thematisierten Erzählstoff darstellen. Bei den Lausbubengeschichten
handelt es sich um lustige Erzählungen, in denen Streiche oder Listen beschrieben
werden, zumeist gibt es ein (erwachsenes) menschliches Opfer und einen oder
mehrere Buben, die als heldenhafte Hauptfiguren in den Geschichten fungieren.
Nachfolgend wurden vier Erzählungen ausgewählt, die auf verschiedene Art und
Weise das Treiben sogenannter Lausbuben thematisieren und dabei unterhaltsam
sein möchten.
ST ♂, geboren 1926:
ST: Ja, und sonst in der Jugendzeit haben wir … mit meinen Nachbarsbuben
hat man sich hauptsächlich herum getrieben, Gendarm und Schelm gespielt.
Man hat seine Schabernacke auch betrieben, dass man bei den Leuten geklin-
gelt hat, und wenn es möglich gewesen ist, einen Reißnagel dazu gesteckt hat,
dass der Stift [von der Klingel, Anm.] drinnen geblieben ist, der Knopf drinnen
geblieben ist. Und so Sachen halt, so Unfug betrieben. Aber sagen wir, nie so
bösartige Sachen. Und da haben wir es halt wie gesagt eben bis zu der Zeit, wo
dann der Krieg ausgebrochen ist, haben wir es wirklich schön gehabt.
TG ♂, geboren 1910:
I: [kommentiert die vorhergehende Erzählung:] Ihr seid Lausbuben gewesen.
TG: Ja. „Himmel nochamol“ haben wir ab und zu ein Theater gehabt. Und
lauter Strafen, einen Haufen Strafen haben wir immer … wir sind immer in
der Strafe gewesen, das ganze Jahr. [lacht] „Herrgottzackrament nochamol“.
Und wenn ein Mann, wo nicht jeden Tag vorbei ist, wo wir nicht gekannt
223 Bausinger: Formen der „Volkspoesie“. S. 142–148.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439