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3. Erinnerungspraxis und Traditionen
lebensgeschichtlichen Erzählens
3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen
Die Frage nach den Einstiegen in die lebensgeschichtlichen Erzählungen ist weni-
ger methodisch, als vielmehr inhaltlich zu verstehen. Viele Befragte bemühten sich,
eingangs eine Zusammenfassung ihres Lebens und ihrer wichtigsten Erinnerungen
an das 20. Jahrhundert zu geben. Diese Einstiege, im Rahmen derer auf die jeweili-
gen Themen und Situationen kaum je näher eingegangen wurde, haben gleichsam
die Funktion eines Inhaltsverzeichnisses zur nachfolgenden lebensgeschichtlichen
Erzählung. Ein Abgleich mit den am häufigsten und am ausführlichsten erzähl-
ten Themenbereichen in allen 67 Interviews zeigt deutlich, dass diese individu-
ellen „Inhaltsverzeichnisse“ einer Lebensgeschichte durchaus repräsentativ sind
für viele andere lebensgeschichtliche Erzählungen. Aus diesem Grund soll die
Analyse dieser überblicksmäßigen Zusammenfassungen eines Lebens gleich am
Anfang eines Interviews auch an den Anfang dieses Kapitels gestellt werden. Aus
mehreren beispielhaften Einstiegen wurde exemplarisch die folgende Erzählung
der 1929 geborenen KL ausgewählt. KL hatte sich im Vorfeld des Interviews Noti-
zen gemacht und orientierte sich an diesen während ihrer Erzählung. Eine der-
art halb-schriftliche Erzählung entspricht natürlich nicht ganz dem eigentlichen
Forschungsgegenstand dieser Arbeit, nämlich der freien, von Assoziationsketten
geprägten lebensgeschichtlichen Erzählung. Sie ist zum Zwecke eines Überblicks
über die nachfolgenden Themenbereiche allerdings sehr geeignet.
KL: Ja. Ich bin 1929 geboren. Mit noch drei Brüdern. In einer Bauernfami-
lie. In Vandans. Zu dieser Zeit hat es drei Volksschulklassen gegeben. Und
der Schulweg ist immer ganz etwas Schönes gewesen, weil wir über den Bach
hinüber mussten. Mit den Nachbarn und halt, ist man gegangen über den
Bach. Der Winter ist dann aber auch ziemlich hart gewesen. Der Kachelofen
und der Sparherd, das ist alles gewesen, was wir gehabt haben zum Heizen.
Man hat dann halt einen Ziegel in den Herd, in den Ofen, ins Rohr, ins Back-
rohr hinein gegeben und so ist man dann ins Bett gegangen. Ich bin sogar bei
den Ersten gewesen, wo eine Schihose bekommen hat, wo ein Schneider im
Haus genäht hat. Nach der Schule haben wir „gvölkerat“26. Da haben wir
halt eine Mordsfreude gehabt. Wir mussten früh in der Landwirtschaft helfen.
Vieh hüten, beim Heuen, Kehren helfen, und Bühel haben wir auch geheut.
Den „Gatmatsch“ unter dem „Fara“ oben. Ziemlich eine steile Sache ist das
gewesen. Gehabt haben wir eine ganz eine einfache Kost. Brösl, Milchmus in
der Kupferpfanne und Erdäpfel und Sauren Käse. Lebensmittelkarten hat es
26 Völkerball gespielt.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439