Seite - 152 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 152 -
Text der Seite - 152 -
152 schon für uns sehr, sehr berührend. Wenn man das heute sieht, das ist ja ganz
kalt. Da wird nur grad mehr in der Kirche zusammengekommen und ein
Rosenkranz gebetet. Aber es wie das jetzt bei uns ist, da fängt das nur mehr
an, klingelt und nachher sagt er einfach „Wir beten für den“ und dann wird
angefangen. Dann geht’s einfach durch den Rosenkranz. Und zuletzt heißt es
noch „Wir beten für den Nächststerbenden“. Aber es gibt noch Ortschaften,
wo man beim Rosenkranz von ihm erzählt, von dem Menschen. […] Und
nachher wenn man natürlich am nächsten Tag den Leichnam begraben hat,
dann hat man ihn auch von zuhause abgeholt und ist dann betend bis in die
Kirche und bei jedem Bach, wo man drüber ist, ist man stehengeblieben mit
dem Toten und auch bei jedem Kreuz, das am Straßenrand aufgestellt war, ist
man stehen geblieben. Abgestellt, ein Vater Unser gebetet und dann ist man
erst wieder weiter. Das fand ich eigentlich schon unwahrscheinlich beeindru-
ckend. Heute fährt man ins Leichenhaus, Leichenhaus will ich nicht sagen, in
den Kühlschrank. Wird wahrscheinlich noch in einen Plastiksack, dass nichts
verloren geht. Und nachher muss er in dem Plastiksack eigentlich verwesen.
Diese Zeiten hat’s auch gegeben. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist. Nur weiß ich
nicht, ob ich eigentlich feuerbestattet werden möchte oder nicht. Oder Erdbe-
stattung. Mir wär lieber Erdbestattung. Nur nicht im Plastiksack.
In DDs Augen wurden die soziokulturellen Gewohnheiten und Bräuche rund um
Tod und Begräbnis eines Menschen zunehmend unpersönlicher, was er bedauert.
In der Wortwahl „Kühlschrank“, mit der er das Leichenhaus bezeichnet, und mit
dem Bild des im Plastiksack verwesenden Leichnams kritisiert der Erzähler ganz
klar die heutigen Abläufe. Diese Kritik verpackt er allerdings in einer Ich-Bot-
schaft und gewährt mit seiner Erzählung sehr persönliche Einblicke, indem er
beschreibt, was ihn berührt, und auch andeutet, was er selbst sich für seine Beer-
digung wünscht. Die ironische Gegenüberstellung von Früher und Heute ist ein
für die Erzählungen DDs typisches Stilmittel und findet sich – meist weniger in
ironischer als vielmehr kritischer oder ein wenig bitterer Art und Weise – bei den
meisten Erzählungen über den Wandel der Bräuche und Gewohnheiten im Mon-
tafon wieder.
3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts lebte der Großteil der MontafonerInnen weitgehend
von ihrer Landwirtschaft und einigen wenigen Zuerwerbsmöglichkeiten. Letztere
wurden etwa durch die Illwerke oder erste, zarte Vorboten des Tourismus gewähr-
leistet, doch die beiden Kriege bewirkten einen Mangel an männlichen Arbeits-
kräften im Tal und auch die Wirtschaftskrise in der Zwischenkriegszeit dämpfte
die ökonomische Entwicklung des Montafons beträchtlich. Wie schwer diese Jahr-
zehnte für die Menschen waren, ist in den Gesprächen mit den ZeitzeugInnen,
die damals zumeist noch Kinder oder Jugendliche waren, deutlich herauszuhören.
„Armut“ und „einfache Verhältnisse“ stellen einen zentralen Erzählstoff in Bezug
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439