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hier kurz dargestellt werden. Die 1920 geborene VU erzählt von Juens Situation als
„Untergetauchter“ und offiziell gesuchter Verbrecher, nachdem er dem Gendarm
kurz nach seiner Festnahme „entkommen“ war:
VU: Auf jeden Fall, ist er da dann … Und von da weg hat er sich verste-
cken müssen. Bald ist er bei der Bäuerin gewesen, die vorher auch mit ihm
gehandelt hat, da hat er gesagt: „Du musst mich da eine Weile verstecken!“
Und dann hat die halt auch wieder gezittert, da wäre ja alles miteinander
eingesperrt worden, wer den versteckt! Dann ist er wieder zu einem anderen
gegangen. Und so hat man das dann mitgekommen, dass er alle paar Tage in
einem anderen Haus wohnt. Und jeder hat sich aber gefürchtet und hat sich
gedacht: „Zu mir darf niemand kommen, ich kann das nicht brauchen.“ Was
denkst du, wenn da … Und man hat ja die Spitzel, die vom Hitler dazumals,
die haben natürlich auch gespitzelt und hätten ihn natürlich gerne geholt, dass
sie ihn abliefern können. Die wären da natürlich mit Lorbeeren geschmückt
worden! […] Ja. Kurzum, die haben halt alle Angst gehabt.
Ungeachtet der finanziellen Motive Meinrad Juens sind seine Hilfeleistungen
durchaus als Widerstand zu bewerten. Professionelle Fluchthilfe wurde immer-
hin als „Judenschmuggel“ geahndet und die Verurteilten hatten die Einweisung in
ein KZ zu erwarten.391 Meinrad Juen half laut Gendarmerieberichten insgesamt 42
JüdInnen über die Schweizer Grenze.392
3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt
In den Wochen vor Kriegsende begann die Ordnung, an die man sich während
der letzten sieben Jahre gewöhnt hatte, Kopf zu stehen. Es zeichnete sich ab, dass
eine erneute massive Veränderung bevorstand, deren Auswirkungen auf die eigene
Zukunft schwer abzuschätzen waren. In vielen lebensgeschichtlichen Erzählun-
gen werden bis heute die Unruhe und die Angst der Bevölkerung deutlich, wenn
die ZeitzeugInnen diese letzten Wochen vor dem Kriegsende am 8. Mai 1945 zu
beschreiben versuchen.
Im Rahmen dieser Beschreibungen hat ein konkretes Ereignis – bzw. die Ver-
hinderung dieses Ereignisses – einen doch beachtlichen Stellenwert: Im Montafon
waren die Pläne der NS-Reichsverteidigung bekannt geworden, die im Falle der
Kriegsniederlage die Zerstörung der wichtigsten Illwerke-Anlagen vorsahen, um
den Gegnern nicht die wertvolle Wasserkraft-Infrastruktur zu überlassen. Die Zer-
störung der Vermunt-Staumauer hätte allerdings aufgrund der aufgestauten Was-
sermassen für die Bevölkerung im Tal eine Katastrophe bedeutet.
391 Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938–1945. S. 223.
392 Weber, Wolfgang: Nationalsozialismus und Kriegsende 1945 in den Vorarlberger Gemeinden des
Bezirks Bludenz. Ein Quellenband. (= Quellen zur Geschichte Vorarlbergs 2) Regensburg 2001.
S. 128.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439