Seite - 340 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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340 Person YBs suchte: „Bei mir waren lange Zeit tausend D-Mark ausgesetzt, wenn sie
den Wilderer von St. Gallenkirch erwischen. […] Aber sie haben mich nie erwischt.“
YB unterstreicht hier mit dem Bild eines auf ihn ausgesetzten Kopfgeldes stolz
seine Überlegenheit gegenüber den Behörden, die seiner nie habhaft werden konn-
ten, während er sich weiterhin nahm, „was ihm zustand“.
Wie bereits in vorhergehenden Kapiteln wird auch hier die Messe am Sonntag
als Versammlungsort der gesamten Gemeinde beschrieben, der vor allem soziale
Funktionen für die Gemeinschaft erfüllt: Neben der Vermittlung von Arbeitsmög-
lichkeiten, der Mitteilung über zum Verkauf stehende Objekte oder einfachem
Informationsaustausch über die Neuigkeiten im Dorf wurden mitunter auch in
aller Öffentlichkeit Streitigkeiten ausgetragen oder zwischenmenschliche Rech-
nungen beglichen. So fragt in EFs Darstellung der Zeuge seines Wilderns beispiels-
weise offen, ob der Rehbraten gut gewesen sei, und stellt damit seinen Informati-
onsstand und seine Macht klar, um schließlich mit einem indirekten Kompliment
einzulenken („Ja, kannst du gut schießen?“) und Solidarität zu bekunden.
Als typisch für Wilderergeschichten können EFs Bewertungen des eigenen
Handelns betrachtet werden, die dem Helden der Geschichte (und damit sich
selbst) Mut und Geschick aussprechen. EF stellt seinen Schuss vor Zeugen mit
„Herrgott, habe ich gedacht, das ist schon verflucht frech“ als verwegen und mutig
dar. Andererseits betont er – wie dies bei Wilderergeschichten sehr häufig der Fall
ist – seine Jagdleidenschaft, die ihm „keine Ruhe gelassen“ hat, bis er schließlich
doch wagte, vor Zeugenschaft zu schießen. Gleichsam aufgrund dieses vermeint-
lichen Jagdinstinktes beschreibt der Erzähler noch, wie das angeschossene Tier
zappelte – und betont damit den eigenen Blick auf das Tier als Beute (und nicht
als Lebewesen), die mit dem Schuss sichergestellt war und erst Stunden später von
ihm geholt wurde. Ebenfalls typisch für Wilderergeschichten ist die Verleihung
eines Prädikats des guten Schützen an die Hauptfigur der Erzählung. EF weist sich
selbst dieses Lob indirekt durch die Worte eines anderen zu.
Wilderergeschichten erfüllen (wie Schmugglergeschichten) vor allem die Funk-
tion der Selbstdarstellung und der Unterhaltung. In der Mustererzählung spielt die
Obrigkeit als Gegenpart eine zentrale Rolle. Die Förster oder Jäger (bzw. Zöllner)
werden an der Nase herumgeführt oder dienen dazu, den Geschichten Spannung
zu verleihen, wenn es zu Verfolgungsjagden oder gar Kämpfen kommt. Auch hier
soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die Darstellungen der ZeitzeugInnen dem
tatsächlichen Sachverhalt entsprechen. Interessant und relevant für die Analyse
von Erzähltraditionen ist allerdings, dass die Erzählungen bestimmten Mustern
darin folgen, was in welcher Form erzählt wird.
3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung
Eine der wichtigsten Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens stellt, ana-
log zum großen Stellenwert der Arbeit in der Biografie, der individuelle beruf-
liche Werdegang der ZeitzeugInnen dar. Als persönliche Einteilung der Lebens-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439