Seite - 35 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 35 -
Text der Seite - 35 -
35
erstaunt über das, was sie gesagt haben. Menschen teilen in narrativen Interviews
also tatsächlich mehr über sich mit, als ihnen bewusst ist.79
Häufig kommt es im Rahmen von durch ein Interview angeregte Stegreiferzählun-
gen zu offensichtlichen Momenten spontaner Rückbesinnung, zu einem oftmals
plötzlichen, unerwarteten Neuentdecken und Wiedererinnern. Die erzählende
Person führt einen Vorgang, oder ihre Biografie, an einem roten Faden vor und
stößt auf Zusammenhänge, die sie vielleicht seit langem vergessen hat und die ihr
nun als besonders wichtig erscheinen. Der Biografieforscher Hans Joachim Schrö-
der misst gerade diesen „Abschweifungen“, nicht selten eine Folge von Assoziati-
onssprüngen, eine zentrale Rolle in lebensgeschichtlichen Erzählungen bei. Neben
den „Abschweifungs-Erzählungen“ begreift er auch die „Erzählverweigerung“,
nämlich das Aussteigen aus der Geschichte, im Rahmen dessen das Gespräch aber
durchaus fortgesetzt werden kann, als eine Erzählfigur, die der Logik des Erinnerns
entsprechend die erzählende Person förmlich zwingen kann, aus dem Gefüge von
Geschichten entlang dem roten Faden auszubrechen.80
Im Rahmen seiner Forschungsarbeit über die Erzählungen 72 ehemaliger
Soldaten über den Zweiten Weltkrieg stellt Schröder die von Schütze postulier-
ten „Zugzwänge des Erzählens“ schließlich insofern in Frage, als er verschiedene
Strategien zur Umgehung ebendieser Zugzwänge feststellen konnte: „Der These
von den Zugzwängen des Erzählens sei hier die These entgegengestellt, daß die
Vielfalt biographischen Erzählens Spielraum genug läßt für ein ‚freies‘, von Zug-
zwängen unabhängiges Rückerinnern. Neben der Strategie des ‚Aussteigens‘ – man
wechselt das Thema – und dem Mittel der Abschweifung – man verliert sich im
Erinnerungsdetail – gibt es weitere Möglichkeiten zur Suspendierung bzw. Igno-
rierung von Zugzwängen des Erzählens: Man ‚kriegt eine Geschichte nicht mehr
zusammen‘, weil Erinnerungslücken bestehen; man gibt sich zufrieden mit ver-
schwommenen, halbfertigen oder ungereimten Erzählungen, weil man peinliche
oder allzu umständliche Details nicht zur Sprache bringen möchte; man ‚biegt die
Geschichten um‘, indem man sie ins Lustige oder in eine allgemeine Betrachtung
wendet, usw.“81 Die von Schütze beobachteten Zugzwänge des Erzählens könnten
zwar vorhanden, müssten aber nicht unbedingt unausweichlich sein.
1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen
Lebensgeschichtliche Erinnerungen sind nur selten zu einer kompletten Lebens-
geschichte ausgearbeitet. Die Biografisierung eines Menschen besteht meist im
Erzählen von Episoden aus dem eigenen Leben, die, wenn überhaupt, nur locker
79 Frommer: Psychoanalyse und qualitative Sozialforschung. S. 27.
80 Schröder, Joachim: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Inter-
view: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten. (= Studien und Texte
zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 37) Tübingen 1992. S. 69f.
81 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 71.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439