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Wellen schlagen zu, die Juden sind jetzt hin.“301 Man hat es halt, nur auf diese
Art und Weise ist alles gewesen. „Und haun und schlahan anand i d’Schnor-
ra“302. Also so ist es eigentlich … brutal hat man dich eigentlich auf diese Art
hin erzogen. Ob du wolltest oder nicht. Du bist halt marschiert und hast halt
das machen müssen. Und ob es dir jetzt gepasst hat oder nicht. Und du hast
eigentlich schon geglaubt, ja die Juden müssen ja ein furchtbares Volk sein,
denn die haben ja die ganzen Deutschen auch ausgesaugt und so weiter, und
ihr Blut vergiftet und Zeug. Du hast ja nie einen Juden gekannt. Wir haben
ja keine gekannt.
In dieser Darstellung wird die rückblickende Perspektive insofern deutlich, als der
Erzähler mit deutlichem Abstand und einer gewissen Ironie seine Erfahrungen bei
der Hitlerjugend reflektiert. JJ beschreibt den militärischen Drill und die Gewalt
unter den Hitlerjungen. Die Hetze gegen die JüdInnen erscheint ihm nach Jahr-
zehnten heute als derart unglaublich und beinahe absurd, dass er die antisemi-
tische Propaganda durch Zitate („denn die haben ja die ganzen Deutschen auch
ausgesaugt und so weiter, und ihr Blut vergiftet und Zeug“) ins Lächerliche zu
ziehen versucht.
Die wesentlichsten Punkte der Kritik an der Hitlerjugend sind die bereits beschrie-
bene Gewalt unter den Mitgliedern sowie die paramilitärische Ausbildung und
ideologische Indoktrinierung. Ein Zeitzeuge erinnert sich, dass er und andere
Hitlerjungen unentgeltlich die Heuarbeit für einen Bauern, einen „Mordsnazi“,
machen mussten, während dieser mit seiner Frau im Liegestuhl lag und ihnen bei
der Arbeit zusah.303 Mit dieser Erzählung möchte der Zeitzeuge den Missbrauch
verdeutlichen, dem die Hitlerjungen zum Opfer fielen. Die ZeitzeugInnen sind
zumeist bemüht, den Opferstatus, den sie als ideologische Zielgruppe des NS-Re-
gimes heute für sich beanspruchen können, zu unterstreichen, um so auch positive
Erinnerungen an die Hitlerjugend erzählen zu können und sich dennoch deutlich
vom Nationalsozialismus zu distanzieren.
3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen
Mehrfach wurde in Untersuchungen lebensgeschichtlicher Erzählungen belegt,
dass sich besonders in Hinblick auf die NS-Zeit feste Formen des Erzählens entwi-
ckelt haben, zu denen vor allem das Relativieren, Moralisieren und Rechtfertigen
301 vermutlich: „Krumme Juden ziehn dahin, daher; sie ziehn durchs Rote Meer. Die Wellen schla-
gen zu, die Welt hat Ruh.“ http://breslau-wroclaw.de/wb/pages/gallery/postkarte-ca.-19001222.
php am 2.5.2011.
302 Und hauen und schlagen einander auf’s Maul.
303 OP, geboren 1930.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439