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34 schen einem „Eigenanteil“ und einem „Fremdanteil“ an der Modifikation: Beim
Eigenanteil handle es sich um das Bedürfnis nach Integration, das die Ereignisse
aus der Perspektive der Erzählsituation als kohärent wiedergibt. Mit Fremdanteil
meint sie die Wirkung einer Erzähltradition, die die individuelle Erzählung in
Richtung einer typischen Szene oder Erzählung kanalisiert.75 Auf Erzähltraditio-
nen soll insbesondere in den Kapiteln 3.1. und 3.2. im Detail eingegangen werden.
1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview
Die nachfolgend analysierten lebensgeschichtlichen Erzählungen wurden im Rah-
men eines (narrativen) Interviews angeregt und aufgezeichnet. Im Laufe eines
narrativen Interviews entwickeln sich häufig bestimmte Dynamiken, die in der
Folge durchaus zu Merkmalen der Erzählungen werden können. Der Soziologe
Fritz Schütze beschrieb in seinen Analysen des narrativen Interviews das Wirken
verschiedener „Zugzwänge“ des Erzählens auf die Gestaltung der Erzählung.76 So
käme es in narrativen Interviews beispielsweise zum Zwang der Gestaltschließung,
das heißt einem von der befragten Person subjektiv empfundenen Zwang, eine
angefangene Geschichte auch zu Ende zu erzählen. Der Zwang zur Detaillierung
führe ferner dazu, dass begonnene Erzählungen mit all jenen Details ausgestat-
tet werden, die es der zuhörenden Person ermöglichen, der Erzählung zu folgen.
Dabei könne es durchaus der Fall sein, dass mit negativen Affekten wie Ärger,
Wut, Scham oder Schuld besetzte ausgeblendete Inhalte einbezogen werden müs-
sen. Der Kondensierungszwang ermögliche es darüber hinaus, Maskierungen für
besonders stark ausgeblendete Inhalte einzuführen.77 Für die interviewende Per-
son bedeutet dies, dass sie bei konsequenter Zurückhaltung im Interview insofern
von den auf die erzählende Person wirkenden Zugzwängen profitieren könnte,
als diese den/die InformantIn verleiten würden, auch Inhalte preiszugeben, die in
einem Dialog so nicht geäußert worden wären oder nicht dargelegt werden hätten
sollen.78 Die Versprachlichung autobiografischer Erlebnisinhalte in der Stegreif-
erzählung bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass die formulierten Inhalte
bewusst transportiert werden – und überraschenderweise auch nicht, dass diese
Eingang finden in das abstrakter gefasste Selbst- und Weltbild der betreffenden
Person. Dies zeigt die Erfahrung von Forschenden im Rahmen unstrukturier-
ter Interviews: InformantInnen sind bei der Lektüre des Transkripts nicht selten
75 Michel: Biographisches Erzählen. S. 91.
76 Vgl. Schütze, Fritz: Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: Kohli, Martin
und Günther Robert (Hg.): Biographische und soziale Wirklichkeit. Stuttgart 1984. S. 78–117.
77 Frommer, Jörg: Psychoanalyse und qualitative Sozialforschung: Zur Zukunft des Verhältnisses bei-
der Disziplinen. In: Dörr, Margret, Heide von Felden, Regine Klein, Hildegard Macha und Win-
fried Marotzki (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte. Erinnerung aus psychoanalytischer
und biographietheoretischer Perspektive. Wiesbaden 2008. S. 21–34. Hier S. 27.
78 Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie. S. 149.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439