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KP: Da sind dann die Wahlen gewesen und da sind in St. Gallenkirch, also
von der ganzen Gemeinde, vier „Nein“ gewesen. Und ich weiß genau, wer das
gewesen ist. Das war der Vater und die Mutter und die beiden Schwestern der
Mutter. Meinem Vater und meiner Familie hat das nicht gepasst, das System.
Ein anderer Zeitzeuge (CY) wiederum berichtet, dass ein ortsbekannter
Schwarz-Metzger sowie der damalige Pfarrer als einzige „Nein“-Stimmen im Ort
gegen die Vereinigung gestimmt hätten. Wie schon im vorhergehenden Ausschnitt
von CD wird in CYs Erzählung über die Nein-Stimme des Schwarz-Metzgers das
Thema des Schwarzmarktes in Zusammenhang mit dem Leisten von Widerstand
gegen die NationalsozialistInnen angesprochen. Diese Tatsache zeigt einerseits auf,
dass das Auflehnen gegen die nationalsozialistische Obrigkeit häufig eine Folge
persönlicher Nachteile (oder des Schaffens von persönlichen Vorteilen) war bzw.
dass die ErzählerInnen sehr rasch von „Widerstand“ sprechen, wenn Menschen
sich aus privaten wirtschaftlichen Gründen gegen die Nazis stellten. Akte der Auf-
lehnung und des Widerstandes haben im Laufe der Rezeption des Nationalsozi-
alismus während der letzten 60 Jahre zunehmend an Prestige gewonnen, dieses
Prestige spiegeln auch die häufigen Erwähnungen in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen wider.
3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören
Wie bereits ins mehreren vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, stellt
das Thema des illegalen „schwarzen“ Agierens einen besonders beliebten Erzähl-
stoff dar, der in fast allen lebensgeschichtlichen Erzählungen Eingang findet. In den
vorhergehenden Ausführungen über die Widerstandserzählungen der ZeitzeugIn-
nen wurde bereits angedeutet, dass „schwarz“ Handeln in den Erzählungen häufig
als Akt der Auflehnung oder des Widerstandes interpretiert wird und als solcher
im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit hohes Prestige
genießt. Eine solche Lesart sieht derlei illegale Tätigkeiten als Akt des zivilen Unge-
horsams gegen das nationalsozialistische Regime und bewertet sie darob vor allem
positiv. Es kann in der Bewertung der politischen Relevanz des Schwarzhandels,
des Schwarzschlachtens oder des Feindsender-Hörens allerdings nicht außer Acht
gelassen werden, was die Beweggründe für diese Akte des Ungehorsams waren.329
In diesem Zusammenhang muss vorab festgestellt werden, dass die Bewertung die-
ser Handlungen als Formen des Widerstandes besonders dann in Frage gestellt
werden muss, wenn die jeweiligen Personen wirtschaftliche Vorteile aus ihrem
Verhalten zogen – was in den meisten Darstellungen dann doch der Fall ist.
Durch die Rationierung und Zuteilung aller Lebensmittel über Marken blühte
während des Zweiten Weltkrieges der Schwarzmarkt auf und auf den Landwirt-
schaften wurden zunehmend Lebensmittelabgaben unterschlagen. Den Erzählun-
329 Löffler: Zurechtgerückt. S. 38.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439