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252 Stehlen von Trauben aus den griechischen Weingärten oder das Schließen-Müssen
des Kragens – erhalten im Bericht größeren Stellenwert als die eigentlichen Kriegs-
handlungen. Zwar wird vom Krieg erzählt, gleichzeitig wird jedoch tunlichst ver-
mieden, schwierige, das heißt moralisch fragwürdige, Themenbereiche zu streifen,
und die Darstellungen beschränken sich auf austauschbare Erfahrungen des Sol-
datenalltags. In Darstellungen wie diesen sind die eigentlichen Kriegserlebnisse,
die die jungen Männer prägten und verändert heimkehren ließen, zwischen der
Topographie der persönlichen Kriegsschauplätze „verloren“ gegangen.
Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Kriegserzählungen der Zeitzeu-
gen hatten mit Sicherheit die beiden Wehrmachtsausstellungen (bzw. das diesbe-
züglich große Medienecho) in den letzten beiden Jahrzehnten, die die Verbrechen
der Wehrmacht thematisierten und dadurch das Ende der Legende von der „sau-
beren Wehrmacht“ einleiteten.344 Einzelne Zeitzeugen nehmen sogar dezidiert
Stellung zu diesen Ausstellungen und kritisieren die dort ihres Erachtens prak-
tizierte Verzerrung der Tatsachen (AC). Der massive Wandel des Bildes von der
Wehrmacht in der öffentlichen Wahrnehmung erschwert es Zeitzeugen anzuneh-
menderweise, in ihrer lebensgeschichtlichen Darstellung möglichst unbeschwert
und frei über ihre Wehrmachtserfahrungen zu sprechen, da sie sich im Zuge des
öffentlichen und medialen Diskurses während der letzten beiden Jahrzehnte impli-
zit Vorwürfen gegenüberstehen sehen, die aus ihrer Sicht Rechtfertigungen gera-
dezu provozieren – bzw. ein Ausweichen oder eine Reduktion der Kriegserzählung
auf topographische Truppenbewegungen nachvollziehbar machen.
3.4.23. Von den Schrecken des Krieges
Um einem ausgewogenen Bild von der Deutschen Wehrmacht gerecht zu wer-
den, muss darauf hingewiesen werden, dass diese insgesamt 20 Millionen Solda-
ten umfasste, die zum Großteil nicht freiwillig, sondern zwangsweise eingerückt
waren und von denen nur ein mehr oder weniger kleiner Teil in kriegsverbreche-
rische Handlungen involviert war.345
In einem beachtlichen Teil der Erzählungen haben die Erinnerungen an den Krieg
einen großen Stellenwert. Dementsprechend umfassend berichten die Zeitzeugen
von ihren Erfahrungen – immer wieder auch über die Darstellung des Krieges als
„Reiseerlebnis“ hinaus – und scheuen sogar vor der Illustration jener Schrecken,
deren Erinnerung sie ein Leben lang mit sich herum tragen mussten, nicht zurück.
Die Erzählungen von den schrecklichen Eindrücken wirken 60 Jahre nach Kriegs-
ende in vielen Fällen distanziert in ihren Ausführungen. Es sind dies Geschich-
ten, die in den Jahrzehnten seither vermutlich oft und oft erzählt wurden und den
Erzählern im Interview kaum noch große Emotionen entlocken. Die schrecklichen
344 Neugebauer, Wolfgang: Der österreichische Widerstand 1938–1945. Wien 2008. S. 185.
345 Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938–1945. S. 185.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439