Seite - 112 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 112 -
Text der Seite - 112 -
112 Die politische Dimension des landwirtschaftlichen Wandels wird nicht nur deut-
lich hervorgehoben, sondern zur Hauptursache für die aktuelle Situation erklärt:
RR übt Kritik an der EU, Kritik am Landesrat und weist mit einer Anspielung auf
eine Wiederholung der wirtschaftlich schlechten 1930er Jahre auf das Bevorstehen
politisch instabiler Zeiten hin. RR bemüht sogar einen Vergleich mit dem Natio-
nalsozialismus und kommunistischen Regimes, unter deren Herrschaft es seiner
Meinung nach den Bauern nicht schlechter gegangen sei, als dies heute im Mon-
tafon der Fall ist.
Eine derart pessimistische Grundstimmung ist in vielen Schilderungen zu spü-
ren, besonders wenn eine heutige mangelnde Wertschätzung von Nahrungsmit-
teln thematisiert wird. Implizit erinnern einige Erzählungen hier an Frevelsagen,
die ja meist die Bestrafung eines Frevels unter anderem an Nahrungsmitteln zum
Inhalt haben.
3.4.6. Modernisierung
Während in den Erzählungen vom wirtschaftlichen und lebensweltlichen Wandel
die Schilderungen zum Themenfeld „Niedergang der Berglandwirtschaft“ negativ
konnotiert sind, stellen Erzählungen über die Modernisierung im 20. Jahrhundert
gleichsam die andere, positive Seite desselben Prozesses dar. Denn der Verlust tra-
ditioneller Strukturen ging einher mit einem Gewinn an Sicherheit, individueller
Entscheidungsfreiheit und letztendlich auch an Unabhängigkeit für das Indivi-
duum.
Vorangestellt werden muss diesem Kapitel der Hinweis, dass die Moderne –
verstanden als industrialisiertes Zeitalter und implizitem gesellschaftlichen Wan-
del weg von der bäuerlichen Tradition – im Montafon viel später als im Rest Vor-
arlbergs erfolgte. Im 19. Jahrhundert kam es im Tal kaum zu Industriegründungen
und es gab nur eine geringfügige Binnenwanderung in das nahegelegene Indust-
riegebiet in der Region Bludenz.126 Einen ersten Modernisierungsschub bewirkten
seit Ende der 1920er Jahren die Baustellen der Vorarlberger Illwerke-AG mit ihren
zahlreichen ortsfremden und gewerkschaftlich gut organisierten ArbeiterInnen
sowie der stetig zunehmende Tourismus. Dennoch lebten 1951 immerhin 31 % der
Bevölkerung des Montafons von der Landwirtschaft, während dies in Vorarlberg
durchschnittlich nur noch bei 18 % der Fall war.127 Gerade deshalb ist der Wandel,
der im 20. Jahrhundert im Montafon stattfand, geradezu atemberaubend.
Anschließend an das vorhergehende Kapitel sollen zunächst Erzählungen über die
Modernisierung in der Landwirtschaft angesprochen werden. Die Arbeitserleich-
terung in Form von Maschinen wie beispielsweise Mähmaschinen oder Traktoren
wurde bereits angesprochen. Einige Erzählungen thematisieren aber auch andere
Aspekte, die die Moderne im Montafon mit sich brachte. Der 1924 geborene UU
126 Kiermayr-Egger: Zwischen Kommen und Gehen. S. 44.
127 Kiermayr-Egger: Zwischen Kommen und Gehen. S. 50.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439