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3.4.44. Unfälle und Krankheiten
Unfälle und Krankheiten stellen in den meisten Fällen sehr persönliche und
wichtige Ereignisse in einer Lebensgeschichte, mitunter sogar lebensverändernde
Einschnitte dar. Unfälle und Krankheiten werden in allen lebensgeschichtli-
chen Erzählungen erwähnt, seien es eigene Erlebnisse oder auch Erfahrungen
mit betroffenen nahestehenden Personen. In einzelnen Fällen stellen chronische
Krankheiten oder bleibende Behinderungen nachvollziehbarerweise eine Leitlinie
des lebensgeschichtlichen Erzählens dar.
Die Darstellungen von Unfällen einerseits sowie von Krankheiten andererseits
unterscheiden sich allerdings in verschiedener Hinsicht. So werden etwa Unfälle
tendenziell als Abenteuer inszeniert und in spannender Art und Weise, mit aus-
führlichen Beschreibungen etwaiger spektakulärer Aspekte, erzählt. Drei Erzähler
geben nachfolgend Beispiele aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz – sie verdeutli-
chen, inwiefern die Schilderungen eines Unfalls häufig bestimmten Mustern folgen:
CC ♂, geboren 1933:
CC: Einmal hab ich einen ganz schweren Unfall gehabt, beim Seilspannen.
Und da ist es knapp hergegangen. Da hat es mich erwischt, da am Kopf, da
hat es mir ein Loch geschlagen, die Nase war total kaputt, den Kopf, den hat’s
auseinander gejagt, den hat’s gesprengt. Da hat es Sanitäter und all das noch
nicht gegeben. Um zwölf ist es passiert und um eins war ich in Schruns im
Josefsheim. Bin ich zu Fuß runter natürlich. Das Blut runter geronnen beim
Kopf.
I: Wahnsinn.
CC: Die erste Schwester ist davongelaufen. Die hat mich nicht erkannt, die
hat gemeint ich sei von den Toten auferstanden. Da haben sie mir schnell
eine Spritze gegeben wegen Wundstarrkrampf. Und dann der Doktor, den hat
man sofort geholt, gleich mit dem privaten Auto. Und da bin ich sogar davon
gekommen. 18 Tage draußen gelegen und da ist es dann gut geworden. So
geht’s halt. Nur ist mir … es ist das Problem gewesen, man hat mir … die
Krankenkassa und das alles hat es nicht gegeben. Man hat keine Versicherung
gehabt, man hat das alles nachher zahlen müssen. Aber es ist dann auch gut,
die Frau hat mir dann geholfen und wir haben’s dann wieder geschafft. So
geht’s, so ist das Leben [lacht].
CY ♂, geboren 1925:
CY: Ja, ja. Ich habe nichts vergessen. Aber, wie gesagt, nachher bin ich da
hinaus gekommen und da habe ich dann Hoch- und Tiefbau gelernt. Und das
war ein wunderbarer Beruf, nur habe ich schwere Unfälle gehabt. Anno 84
habe ich einen Unfall gehabt, da hätte niemand mehr fünf Schilling gegeben
für mich. Da haben sie gemeint, das packe ich nicht.
I: Was ist passiert?
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439