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seits aber auch aus der Tatsache, dass die Schwerpunkte des lebensgeschichtlichen
Erzählens zumeist auf den ersten beiden Lebens-Dritteln liegen, ergibt.
3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust
Der Erzählstoff „Tod und Verlust“ ist (wie dies auch bei lebensbegleitenden Krank-
heiten oder Behinderungen der Fall war) wenig repräsentativ für lebensgeschicht-
liche Erzählungen im Allgemeinen, da es sich hier im Grunde genommen um Aus-
nahmeerlebnisse handelt. Er soll nachfolgend besonders in Hinblick auf Muster in
den Darstellungen untersucht werden.
Chronologisch besehen wird in lebensgeschichtlichen Erzählungen neben einem
eventuellen Tod eines Elternteils zunächst vom Tod etwaiger Geschwister berich-
tet. Wie im Kapitel über die Erzählungen von den AhnInnen bereits dargestellt
wurde, erfolgt am Eingang der lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht selten
eine Verortung der eigenen Person im sozialen und familiären Netz. Ganz in die-
sem Zusammenhang ist die Erwähnung des Todes der eigenen Geschwister zu ver-
stehen, wie die nachfolgenden drei Beispiele eindrücklich belegen:
MN ♀, geboren 1917:
MN: Ja. Die Mama war von Gaschurn. Der Vater von Gortipohl.
I: Wieviele Kinder?
MN: Es waren sieben Kinder. Ich bin die einzige, die übrig geblieben ist. […]
Also vier sind klein gestorben, an Diphtherie und Hirnhautentzündung. Und
was hat denn das Dritte noch gehabt? Ah, Gicht, hat man damals gesagt. Ich
weiß nicht, was das für eine Krankheit gewesen ist. Eine Kleinkinderkrank-
heit. Auf alle Fälle ist sie gestorben mit einem halben Jahr. Und zwei sind,
glaube ich, an Diphtherie gestorben.
I: Sind Sie quasi als Einzelkind aufgewachsen?
MN: [lacht] Nein. Zwei Brüder waren dann noch. Und der eine ist im Krieg
gefallen, 42. Und der andere war nierenkrank und ist im Jahre 50 gestorben.
Jetzt bin ich noch alleine.
RI ♂, geboren 1910:
RI: Ich komme gebürtig aus Altenstadt, einer Bauernfamilie mit zwölf Kin-
dern, und ich bin der viertletzt Geborene. Heute bin ich der einzige der noch
lebt.
GH ♂, geboren 1929:
GH: GH ist mein Name. Ich bin als siebtes Kind meiner Eltern geboren am 12.
Jänner 1929. Zwei Kinder davon sind leider an Hirnhautentzündung gestor-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439