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3.4.20. Auflehnung und Widerstand
Eng verbunden mit den Beschreibungen der Repression durch die Nationalsozia-
listInnen und die nationalsozialistische Politik sind Erzählungen von Auflehnung
und Widerstand. Dabei handelt es sich vor allem um Widerstand im kleinen Maß-
stab, etwa um die Weigerung, die Hand zum Gruße zu heben, mit „Heil Hitler“ zu
grüßen oder einen sinnlos erscheinenden Befehl zu missachten. Unter Widerstand
werden, neben dem bewussten Willen und aktiven Handeln, das zur Veränderung
oder Beseitigung des Nationalsozialismus beitragen soll, durchaus auch unange-
passte Verhaltensweisen und Widersetzlichkeiten verstanden. In diesem Sinne
sind auch Gehorsamsverweigerung, verbotenes Radiohören, Kritik und Witze,
Umgang mit regimefeindlichen oder verfolgten Menschen etc. ebenfalls als Akte
des Widerstandes anzuerkennen.327
Ähnlich wie bei den im letzten Kapitel erwähnten Denunziationserzählungen
machen auch die Erzählungen von Auflehnung und Widerstand gegen die Nazis
ihre zentralen AkteurInnen meist zu schneidigen HeldInnen. Der 1934 geborene
CD erzählt nachfolgend, wie sich sein Vater einem Befehl des Ortsgruppenleiters
widersetzte, da er ihm als nicht sinnvoll erschien und ihn in einer wichtigen Arbeit
behinderte. Der Vater war sich möglicher Konsequenzen bewusst und vermochte
das Schlimmste gerade noch abzuwenden:
CD: Und gegen Ende des Krieges ist es fast immer spitziger geworden. Die
Leute haben immer mehr nicht mehr getraut. Ich weiß dann nur noch, der
Vater hätte mit der Winterhilfswerksbüchse sammeln müssen an einem Sams-
tag. Und er musste immer bis am Samstag zu Mittag arbeiten. Und dann
sagt mein Vater zum Ortsgruppenleiter in Tschagguns: „Sei so gut und schick
solche halberwachsene Buben, 15, 16-Jährige, ich muss Butter abliefern, ich
muss Fleisch abliefern, und Eier abliefern, und habe nur einen halben Tag,
um zu arbeiten. Lasst mich doch arbeiten, dass ich auf der Landwirtschaft …
und schickt …“ Und dann sagt der Ortsgruppenleiter zum Vater: „Gehst du
jetzt sammlen, AD, oder nicht? Sonst rückst du in der nächsten Woche ein“.
Da sagt mein Vater keck und fest: „Nein, ich gehe nicht sammeln.“ Und der
Vater geht ins Haus und erzählt das meiner Mutter, was da vor dem Haus
vorgefallen ist. Und dann sagt meine Mutter: „AD, jetzt musst du aber schnell
etwas unternehmen“. Und mein Vater hat ein bisschen geräuchertes Fleisch
eingepackt und ein Kilo Butter. Und er hat in Feldkirch unten einen sehr guten
Anwalt, das ist fast ein Jugendfreund gewesen von meinem Vater, gekannt.
Und der hat immer ein bisschen schwarz gehandelt mit … ist halt für seine
Familie zum Vater gekommen und hat dann hin und wieder einmal … mein
Vater hat schwarz geschlachtet, und nicht nur für sich, auch für andere. Und
da hat er halt auch ein bisschen mitgelebt, der Mann da unten. Und dann hat
der Vater ihm das alles erzählt, wie es zugegangen ist. Das ist an einem Sams-
327 Schreiber: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. S. 292f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439