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406 hohen Stellenwert von Naturereignissen in der mündlichen Überlieferung auf, der
bewirkt, dass diese in die lebensgeschichtlichen Erzählungen einfließen. Naturer-
eignisse stellen mitunter – egal ob man diese selbst miterlebte oder nicht – auch
deshalb einen wichtigen Bestandteil der lebensgeschichtlichen Erzählung dar, weil
sie als historische Ereignisse der Montafoner Geschichte großen Stellenwert haben.
3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten
Wie schon im vorhergehenden Kapitel zu den Erzählungen von Naturkatastro-
phen deutlich wurde, spielen auch mystische und rätselhafte Begebenheiten eine
Rolle in lebensgeschichtlichen Erzählungen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass
die ErzählerInnen selbst ZeugInnen der beschriebenen Ereignisse waren. Auch
Geschichten, die über Dritte in Erfahrung gebracht wurden, werden durchaus als
erzählenswert erachtet und in die eigene Biografie integriert. Bereits im letzten
Ausschnitt des vorhergehenden Kapitels konnte aufgezeigt werden, dass Erzählun-
gen über mystische und rätselhafte Begebenheiten mitunter klassische Formen der
Sagenerzählungen annehmen. Dabei spielen vor allem moralische Werte einerseits
sowie eine pädagogische Funktion der Geschichte andererseits eine große Rolle.
Die nachfolgenden Erzählungen der 1941 geborenen MM verdeutlichen dies:
MM: Die Schwiegermama hat einmal erzählt, dass im Krieg Bettler gekom-
men sind und Lebensmittel wollten, vor allem Butter. Die Mutter hat ihm
nichts geben können, da wir selber zu wenig hatten. Da ging dieser in die
Kapelle und schimpfte. Meine Mutter hat dann festgestellt, dass sie keine But-
ter mehr herstellen konnte, es hat einfach nicht geklappt. Sie ist zum Pfarrer
hin und der weihte alles ein, da konnte sie dann die Butter wieder herstellen.
Noch eine Begebenheit kann ich erzählen. Und zwar waren im Stall die Kühe
mit den Ketten ineinander verhängt. Darauf hin sagte meine Mutter einen
Spruch in etwa so „Du oder Ich“ und die Ketten sind zu Boden gefallen! Meine
Mutter hat mir das mit auf den Lebensweg gegeben, dass ich einem Bettler
immer was geben sollte, weil diese mich sonst verwünschen.
MMs Darstellung lässt erkennen, dass die Mutter offenbar mitunter auf sagenar-
tige Erzählungen zurückgriff, um der Tochter die eigenen Werte zu vermitteln.
Interessant ist bei näherer Betrachtung der Erzählung, dass als Beweggrund zum
Almosen-Geben vor allem die Angst vor Sanktionen vermittelt wird, und nicht das
Ideal der christlichen Nächstenliebe. Erzählungen wie jene MMs haben klar einen
Auftrag bzw. einen werthaltigen Endpunkt: Richtiges bzw. falsches Verhalten wird
aufgezeigt und bewertet und den Zuhörenden die Botschaft mitgegeben, sich den
dargestellten Normen entsprechend zu verhalten.
Einen weiteren „klassischen“ Bereich der Erzählungen stellen Geister- oder „Butz-
geschichten“ dar. Auch sie spielen eine gewisse Rolle in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen, erfüllen hier aber vor allem eine unterhaltende Funktion. Geister-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439