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der mit dem Motorrad nach Gargellen gekommen! Da hat das seinen Anfang
genommen. […] Aber im Jahr 51 war ich schon wieder ledig. Ja. Er war ein
Schnelllebiger. Ich habe aber zwei Söhne gehabt, die habe ich ja noch. Der eine
ist in Deutschland, der andere in Kanada.
I: Wirklich? So weit!
UF: Ja, ja. Im Jahr 51 wurde ich geschieden. Da begegnete ihm das Glück
des Lebens, was selten einem Menschen begegnet. – Und nachdem ich sehr
großzügig bin, wollte ich seinem Glück nicht im Wege stehen. Da ist das aus-
einander gegangen. Aber die Ehe hat nicht lange gehalten, er hat es dann bis
zu dritten Frau gebracht.
UFs humorvolle Darstellung ihres Ehelebens lässt vermuten, dass Sarkasmus zeit-
lebens als persönliche Strategie zur Bewältigung schwieriger Situationen fungierte.
Dass es die anschließend alleinerziehende Mutter ohne finanzielle Unterstützung
durch den geschiedenen Mann nicht leicht hatte, ist in diesem Ausschnitt nicht
erkennbar, sondern klingt in anderen Interviewstellen durch.
UFs Erzählung verdeutlicht zum Abschluss des Kapitels „Liebe und Ehe“, dass
die Strategien, diesen Erzählstoff dem zuhörenden Publikum zu vermitteln, sehr
vielfältig sind: Sie reichen von Ironie und scherzhaften Kommentaren bis hin zur
Reduktion auf Andeutungen oder überhaupt Auslassungen – und bestätigen, dass
der Erzählstoff zwar sehr nahe am Leben der ErzählerInnen ist, es ihnen aber mit-
unter schwer fällt, frei und offen über ihre Erfahrungen zu sprechen.
3.4.43. Geburt der Kinder
Wie im vorhergehenden Kapitel bereits angedeutet wurde, ist die Geburt der Kin-
der thematisch eng mit den Erzählstoffen Liebe und Eheschließung verknüpft,
sodass der Eindruck entsteht, Liebe und Ehe hätten (in den Augen der Erzähler-
Innen) geradezu ausschließlich den Sinn, Nachkommenschaft zu zeugen. Umso
interessanter ist es festzustellen, dass die Geburt der Kinder – bzw. der Eintritt der
neuen Familienmitglieder ins Leben der Eltern und der Einfluss auf dasselbige –
in Form von Geschichten oder Anekdoten kaum je thematisiert werden. In den
allermeisten Fällen bleibt es bei der Erwähnung der Geburt der Kinder in Form
von Anzahl und Geburtsdatum. Einige wenige Ausnahmen berichten ausführli-
cher etwa vom Ereignis der Geburt – das heutzutage ja einen großen Meilenstein
im Leben einer jungen Familie darstellt. Sie sollen nachfolgend zu Wort kommen.
SH ♂, geboren 1925:
I: Können Sie sich erinnern, wo Ihr Sohn auf die Welt gekommen ist?
SH: Ja, gut auch noch. Das ist 48 gewesen, ein Sauwetter gewesen, ein mords
Sauwetter. Und dann, ja ja, ist sie daher gekommen, jetzt müsse ich die Heb-
amme holen. Ja, ja, im Silbertal ist die Eine drinnen gewesen, jetzt bin ich da
hinein, ich denk einmal, am Morgen um vier oder fünf ist das gewesen. Bin
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439