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424 Jeder Erzählstoff hat das Potenzial, in einer lebensgeschichtlichen Erzählung
zur Leitlinie zu werden. Welcher Erzählstoff sich wie ein roter Faden durch eine
autobiografische Darstellung zieht und sich über weite Strecken als erzählerische
Leitlinie darstellt, gibt mitunter Einblicke in die Wertvorstellungen der Erzählge-
meinschaft.
Nach einem kurzen Rück- und Überblick über die ausgewählten 50 Erzählstoffe
aus den untersuchten lebensgeschichtlichen Erzählungen sollen nachfolgend mit
„Wandel“ und „Arbeit“ zwei der wichtigsten Erzählstoffe und gleichsam Leitli-
nien lebensgeschichtlichen Erzählens separat und eingehender betrachtet sowie
anschließend zwei zentrale Aspekte biografischer Darstellungen beleuchtet wer-
den: die Frage nach geschlechtsspezifischen Erzählungen und Historizität in Auto-
biografien.
4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie
Zum Zwecke eines Überblicks ließen sich die 50 untersuchten Erzählstoffe unter
verschiedenen Aspekten zusammenfassen: etwa nach ihrer regionalen versus ihrer
überregionalen Relevanz, nach ihren Funktionen oder auch nach ihrem histori-
schen versus ihrem individuell persönlichen Bedeutungsgehalt. Auf den letztge-
nannten Aspekt soll im Kapitel 4.1.5. „Geschichtliches und Lebensgeschichtliches“
im Detail eingegangen werden.
Bezugnehmend auf die Erinnerungsdichten und die retrospektive Einteilung
in Lebensphasen im Zuge einer lebensgeschichtlichen Erzählung sollen in diesem
Kapitel die Erzählstoffe tendenziell chronologisch, d.h. in ihrer Bedeutung für
die jeweiligen Lebensabschnitte der ErzählerInnen zusammenfassend betrachtet
werden.
Die lebensgeschichtlichen Erzählungen der interviewten Gewährsleute lassen sich
(u.a. bedingt durch ihr Geburtsjahr und ihre Zugehörigkeit zu einer Generation)
in drei große Abschnitte einteilen: erstens in die Jahre der Kindheit in der Zwi-
schenkriegszeit, zweitens in die Zeitspanne des Nationalsozialismus, des Zweiten
Weltkrieges und der ersten Nachkriegsjahre und drittens in den Abschnitt der
eigentlichen „Lebensgründung“ und des wachsenden Wohlstandes in den Jahr-
zehnten seither. Dazu ist einerseits anzumerken, dass die jeweiligen Erzählstoffe
von den ErzählerInnen nicht immer in ihrer chronologischen Reihenfolge in die
lebensgeschichtlichen Erzählungen eingebunden werden. Andererseits ist augen-
fällig, dass die drei Lebensabschnitte und ihre jeweilige zeitliche Dauer überhaupt
nicht mit der Intensität, dem Umfang und der Vielfalt der Erzählstoffe während
dieser Jahre korrelieren.
Ganz im Gegenteil: Der erste Abschnitt umfasst die Jahre von der frühen
Kindheit der ErzählerInnen (durchschnittlich in etwa Mitte der 1920er Jahre)
bis 1938. Die Erzählstoffe, die diese 10 bis 20 Jahre beschreiben sollen, werden
besonders emotional, ausschweifend und dicht präsentiert. Wenngleich die erzäh-
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439