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1.2.3. Erinnerung
Wie der Seitenblick auf die Definition des autobiografischen Gedächtnisses auf-
zeigte, ist es der Spracherwerb, der Erlebnisse im Bewusstsein Gestalt als Erfah-
rung und Erinnerung annehmen lässt. Soziale und individuelle Erinnerung sind
in diesem Sinne also untrennbar miteinander verbunden. Ein Erlebnis wird erst
zur Erfahrung, wenn es reflektiert wird, und reflektieren bedeutet, der Erfahrung
eine Form zu geben. Diese Form kann nur sozial vermittelt sein.54 Darüber hinaus
stehen Erinnerungen, also die ins Gedächtnis eingegrabenen Spuren des Erlebten,
unter dem Einfluss der Art und Weise, wie ein Moment, eine Situation, Hand-
lungsweisen, Ereignisse oder ganz allgemein das Leben erlebt wurden.55
Neben dem zeitlichen Faktor, der impliziert, dass der Mensch nur direkt nach
dem Ablauf von Ereignissen, Prozessen und Erfahrungen zu einer exakten Schil-
derung derselben in der Lage ist, kommen weitere Faktoren hinzu, die die Qualität
von Erinnerung beeinflussen: Erstens spielen die Art des Erinnerungsgegenstan-
des und dessen individuelle Bedeutung eine Rolle. Einmalige Ereignisse und bio-
grafische Schlüsselerlebnisse prägen sich stärker ein und werden genauer erinnert
als strukturlose, sich alltäglich wiederholende Handlungsabläufe. Zweitens kommt
der Grad des Begreifens und Verarbeitens des Erinnerten zum Tragen. Erlebnisse,
die nicht eingeordnet werden können, und Erfahrungen, die unverständlich blei-
ben, haften nur schwer und fast immer ungenau im Gedächtnis. Meist werden sie
assoziativ und episodenhaft erinnert. Ein dritter Faktor ist schließlich die soziokul-
turelle Bedeutung des Erinnerten. Milieu und Gesellschaft prägen die individuelle
Erinnerung erheblich, so kann das Individuum jene Ereignisse und Prozesse, die
gemeinhin als relevant gelten, leichter im Gedächtnis behalten.56
In Zusammenhang mit dem autobiografischen Gedächtnis wurde bereits das Phä-
nomen der „reminiscence bumps“, also lebensalter- und entwicklungsspezifisch
unterschiedlicher Dichten von Erinnerung, angesprochen. Darüber hinaus gibt
es bestimmte Rahmen, welche autobiografische Erinnerungen begünstigen. Sie
sind hierarchisch auf drei Ebenen gelagert: Erstens werden bedeutsame Lebens-
abschnitte („wie ich in der Schweiz gearbeitet habe“), zweitens allgemeine Ereig-
nisse („wie ich damals einen Ausflug an den Vierwaldstättersee gemacht habe“)
und drittens spezifische Einzelereignisse („wie ich mit dem Boot gekentert bin“)
erinnert. In einer biografischen Erzählung fließen diese Ebenen ineinander und
können, wiederum abhängig von der emotionalen Bedeutsamkeit des Erinnerten,
zur Refiguration des berichteten Ereigniszusammenhanges führen.57
54 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 30.
55 Bertaux, Daniel und Isabelle Bertaux-Wiame: Autobiographische Erinnerung und kollektives
Gedächtnis. In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis
der „Oral History“. Frankfurt a. M. 1980. S. 108–122. Hier S. 110.
56 Hagemann, Karen: „Ich glaub’ nicht, daß ich Wichtiges zu erzählen hab’ …“. Oral History und
die historische Frauenforschung. In: Vorländer, Herwart (Hg.): Oral History. Mündlich erfragte
Geschichte. Göttingen 1990. S. 29–48. Hier S. 40f.
57 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 42f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439