Seite - 370 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 370 -
Text der Seite - 370 -
370 Hinweis auf die getrennten Zimmer der späteren Eheleute – fehlt nicht. Aller-
dings: die Ferien wurden im Montafon verbracht – dort, wo sonst Deutsche und
HolländerInnen wochenlang nächtigen, folgen zwei Einheimische ihrem Beispiel
und machen damit deutlich, dass für sie Urlaub weniger Luxus (denn Geld hatten
die beiden kaum), sondern vielmehr Lebensqualität darstellte. Dieser Aspekt von
Urlaub, nämlich quasi „sanfter“ Tourismus in der Region Montafon, wird selten in
den lebensgeschichtlichen Erzählungen angesprochen – es sei denn im Rahmen
von Wandersport und Alpinismus.
3.4.42. Liebe und Ehe
Bei den meisten ZeitzeugInnen fiel die Phase der Familiengründung in die Nach-
kriegsjahre. Diese biografische Tatsache schlägt sich in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen in Form einer auffallenden Gleichzeitigkeit nieder: Wie bereits aufge-
zeigt wurde, spielt während dieser Jahrzehnte der wirtschaftliche Aufschwung, der
sogenannte „Wiederaufbau“, eine große Rolle in den Darstellungen. Analog dazu
beschreiben die Befragten den Aufbau ihres persönlichen, privaten und berufli-
chen Lebens, etwa in Form des Häuslich-Werdens oder des „Sich-etwas-Schaffens“.
Das Zusammenfallen der Familiengründungs- und Karriereplanungsphase einer-
seits mit dem allgemeinen „Wiederaufbau“ in Österreich andererseits hinterlässt in
den Erzählungen den starken Eindruck eines (Neu-)Anfanges bzw. überhaupt des
eigentlichen Beginns des Lebens der dazumal jungen Leute.
Während Arbeit, Karriere und berufliche Schritte in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen stark im Vordergrund stehen, werden Liebesbeziehungen und Fami-
liengründung nur am Rande erwähnt. Überhaupt wird der Erzählstoff „Liebe“ in
den Autobiografien stark vernachlässigt und der sexuelle Aspekt der Liebe völ-
lig ausgeblendet. Sexuelle Orientierung, sexuelle Erfahrungen oder die Rolle des
Sexuallebens stellen in den lebensgeschichtlichen Erzählungen vielleicht ein Tabu,
jedenfalls aber einen vermiedenen Gesprächsgegenstand dar. Wenn der 1927
geborene BD nachfolgend schildert, wie seine Aufklärung an kirchliche Stelle aus-
gelagert wurde, handelt es sich bei der Behandlung dieses Erzählstoffes um eine
rare Ausnahme:
BD: Und noch etwas. Das hat jetzt mit dem allen nichts zu tun. Nur, dass
man sieht, wie wir als Kinder gelebt haben, und wie uns die Eltern eigent-
lich überhaupt nicht aufgeklärt haben. Wo ich die Einberufung gekriegt habe
zum Arbeitsdienst, das weiß ich auch nicht warum das der Pfarrer hat, da
haben wir drei – sind wir Gleichaltrige gewesen, 27er – haben wir müssen
zum Dekan auf Bludenz, und der hat uns dann aufklären müssen. Weil wir ja
nicht gewusst haben … Wir haben schon gewusst, dass es zweierlei Leute gibt,
aber viel mehr haben wir nicht gewusst, oder. Und dass wir da halt nicht auf
eine falsche Bahn kommen, hat uns der Dekan da aufgeklärt.
I: Können Sie sich da dran noch erinnern? An die Aufklärung? [lacht]
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439