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136 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten
Ein den Erzählungen über den Alltag sehr verwandter Erzählstoff widmet sich den
(vielfach nicht mehr praktizierten) Bräuchen vor allem der traditionellen, vormo-
dernen Gesellschaft im Montafon sowie Routinen oder Gewohnheiten, die nach-
folgend als soziokulturelle Gewohnheiten bezeichnet werden. Während Bräuche
zeitlich und räumlich festgeschriebene, institutionalisierte soziokulturelle Formen
bezeichnen, die einer ausübenden Gruppe bedürfen, für die die Handlung eine
Bedeutung erlangt,154 lehnt sich der Begriff der soziokulturellen Gewohnheiten
an den (aufgrund seiner moralischen Komponente heute überholten) volkskund-
lichen Begriff der „Sitte“ an, insofern, als hierunter traditionsgeleitete Hand-
lungsanweisungen, die das über den konkreten Handlungen stehende Wert- und
Normsystem repräsentieren, verstanden werden155 – und wird damit persönlichen
bzw. individuellen Gewohnheiten eines Menschen gegenübergestellt.
Soziokulturelle Gewohnheiten äußern sich als übliche Handlungsweisen im sozi-
alen Umgang miteinander bzw. im Umgang mit einer bestimmten Situation. Die
1907 geborene XX kann mit ihrer Erzählung von der Rolle der Dorfbälle für die
jungen Menschen ein schlichtes Beispiel für soziokulturelle Gewohnheiten geben:
XX: Früher hat die Feuerwehr … Feuerwehr war, solange ich mich erinnern
kann. Und die hat im Winter, im Fasching einen Ball gehabt. Einen Musik-
ball. Und der Musikverein, die waren auch solange ich mich erinnern kann.
Die haben auch einen Ball gehabt und dann war da noch [3 sec. Pause] ich
weiß nicht wie man sagt. Dort hat man dann auch einander kennen gelernt.
Da ist man sonntagabends auf den Ball und da sind dann die jungen Leute
so gekommen, die gerne getanzt haben, und da haben sich auch viele kennen
gelernt. Das war eigentlich ganz anders. Das gibt’s heute nicht mehr, dass so
ein Ball da …
I: Wo alle hin gehen. Ja.
XX: Ja. Und da sind dann viele Ältere, ältere Leute, also bei der Feuerwehr, da
die Mitglieder, sind dann, kann man sagen, alle zusammen gekommen und
sind mit den Frauen zum Ball gegangen und haben getanzt.
I: Hat man da damals auch Alkohol getrunken?
XX: Ja! Ja!
I: Was hat man da getrunken?
XX: Man hat dann Wein getrunken. Ich weiß, meine Mutter hat dann gesagt,
wenn wir dann auf dem Ball waren, hat sie gesagt, „nehmt nur ein paar
Zucker in die Tasche, damit ihr Zucker hineingeben könnt“. [lacht]
I: In den Wein?
XX: In den Wein! [lacht]
154 Bimmer, Andreas: Brauchforschung. In: Brednich, Rolf (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einfüh-
rung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 20013. S. 445–468. Hier S. 445.
155 Bimmer: Brauchforschung. S. 446.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439