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268 3.4.25. Heimkehr
Das Muster der Erfolgsgeschichte in Bezug auf das Überleben des Krieges und
anschließend der katastrophalen Umstände in Kriegsgefangenschaft findet seine
Fortsetzung in der Darstellung der Heimkehr. Generell lässt sich feststellen,
dass zahlreiche Zeitzeugen die Erzählungen über die Heimkehr aus Krieg oder
Gefangenschaft wesentlich ausführlicher beschreiben als die Erinnerungen an
die davorliegenden Kriegsjahre. Auch in diesem Fokus auf die schönere Erin-
nerung an den Heimweg, die Freude auf Familie und Heimat, ist eine Strategie
des Umgangs mit den Kriegserinnerungen zu sehen, die in einigen Erzählungen
weitgehend ausgeblendet oder nur kurz umrissen werden und schließlich mit
der krönenden Geschichte von der Heimkehr ins Montafon abgeschlossen sind.
Die Erzählungen von der Heimkehr werden allerdings keineswegs idyllisiert, die
Erzähler sprechen vom „sich Durchschlagen“, vom Betteln und Stehlen, von gro-
ßen körperlichen Anstrengungen oder beschwerlichen Fußwegen über die Berge
und nicht zuletzt von der Angst vor den Besatzungssoldaten und der eigenen
Zukunft. Am Anfang der Heimkehrergeschichten stehen häufig Erzählungen
über das Kriegsende und die persönliche Bedeutung dieser Nachricht. Der 1924
geborene SZ erinnert sich:
SZ: Dann kam an und für sich der Rückzug. Jeden Tag, etappenweise, ging’s
wieder rückwärts. […] Nach Ungarn dann und so weiter. Ich weiß nicht wo,
das war für uns ein Schlag, 1945, hat’s geheißen, „der Krieg ist zu Ende, ihr
könnt nach Hause gehen“. Können Sie sich vorstellen, wir stehen da, und was
das heißt: „nach Hause gehen“. Und dann hat man sich erkundigt, wie geht
man am besten. Die einen sind Richtung Prag hinauf, und die anderen, wir
sind Richtung Linz hinab. Also nach Oberösterreich. Und da kamen aber
schon die Russen von unten herauf und haben uns dann geschnappt.
Für SZ stellte die Nachricht vom Kriegsende einen „Schlag“ dar, der ihn vor völlig
neue Tatsachen stellte. Einerseits war der Krieg verloren – was zu diesem Zeit-
punkt keine Überraschung darstellte, aber schlussendlich doch die Anstrengungen
der vorangegangenen Jahre noch absurder und unnötiger erscheinen ließ. Ande-
rerseits befanden sich die Soldaten zumeist weit von Österreich und erst recht vom
Montafon entfernt und ahnten, dass eine beschwerliche und mitunter gefährliche
Reise ohne den bisherigen Schutz der Truppen bevorstand. Zu diesem Zeitpunkt
war für die Soldaten schwer einzuschätzen, was die nun folgenden Wochen brin-
gen würden. Der 1926 geborene ST beschreibt seine Heimkehr wie folgt:
ST: Und darum sind wir zwei dann immer nur in der Nacht gelaufen, haben
uns hauptsächlich von Ding … Weintrauben ernährt. Durch die Weinberge
sind wir gezogen. Und bis wir dann nach Wiener Neustadt gekommen sind.
Und von Wiener Neustadt weg ist es dann mit dem Zug gegangen, zuerst
Wiener Westbahnhof. Dort am Westbahnhof, das ist ja nur ein Trümmerfeld
gewesen, und so Baracken aufgestellt gewesen, und alles mit Holz vernagelt.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439