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104 gefüttert. Dann sind sie wieder geflogen gekommen. Dann habe ich ihn wieder
„verhandlat“. [lacht laut] Bis … bis sie mir dann drauf gekommen sind. Dann
haben sie es mir dann eingestellt. [lacht] Haben die … diesen Krähenhandel.
Und ja, mit der Mutter habe ich jetzt da auch nicht gerade eine Freundschaft
gewonnen mit den Krähen. Weil diese Spitzbuben sind dann oft in die Küche
hinein, und „hon eppas an Hafadeckl aherghaut“93. Da hat dann die Mama
Rahm in einer Kanne gehabt. Dann habe die dann da Rahm herausgepickt,
„dia Siacha“94. Und das hat die Mutter dann halt nicht so gerne gehabt. [lacht]
Aber das hat man sich dann halt eben … das ist unsere Unterhaltung gewesen.
Wir haben noch keine Mopeds und kein Motorrad und nichts gehabt.
CDs Erzählung möchte unterhalten, sie dient aber auch der Selbstdarstellung,
wenn es um die Kreativität und die Verwegenheit des Erzählers auf der Suche nach
einer Einnahmequelle geht. Die letzte Bemerkung „Wir haben noch keine Mopeds
und kein Motorrad und nichts gehabt“ weist auf einen weiteren Grund hin, warum
der Erzähler gerade diese Geschichte zum Besten gibt. Die Begrenztheit und Ein-
fachheit der Freizeitbeschäftigungen mit hohem Anteil an Fantasie in der Kind-
heit des Erzählers, symbolisiert durch den frechen Jungen, der kletternd Krähen
entführt, sie zähmt und mehrmals verkauft, wird modernen Zeiten gegenüberge-
stellt, in denen Mopeds und Motorräder als Hauptbeschäftigung von Jugendlichen
angedeutet werden. Die Gegenüberstellung von Früher und Heute ist, wie bereits
aufgezeigt wurde, ein Kernthema in vielen lebensgeschichtlichen Erzählungen. In
diesem Zusammenhang kann CDs Geschichte von den Krähen auf der Ebene der
Aussage als Mustererzählung bezeichnet werden – wenn sie auf sachlicher Ebene,
nämlich in Bezug auf die Domestizierung von Krähen, auch ein einzigartiges Bei-
spiel darstellt. Des Weiteren zeigt sie auf, wie und mit welchen Methoden die Kin-
der in den Bauernfamilien bemüht waren, sich etwas dazuzuverdienen.
3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft
In einer Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, deren Mitglieder nicht nur in einer
berglandwirtschaftlich geprägten Gesellschaft aufgewachsen sind und hier soziali-
siert wurden, sondern die größtenteils auch selbst lange Jahrzehnte LandwirtInnen
waren oder zumindest Kinder von Bauern, stellt der Niedergang der traditionel-
len Berglandwirtschaft im Montafon eines der Lebensthemen für die ErzählerIn-
nen dar. Als erzählerische Form, in der dieser Niedergang dargestellt wird, wird
zumeist eine Gegenüberstellung der Situationen und Praktiken früher und heute
gewählt. Es ist typisch für die allermeisten Erzählungen zum Thema Wandel, dass
ErzählerInnen mithilfe eines Zeitenvergleichs kontrastieren. Lehmann interpre-
tierte diese Kontrastierungen von Früher und Heute nicht nur als stilistisches Ele-
ment zu bildhafter Veranschaulichung beim Erzählen, sondern darüber hinaus
93 haben ab und zu einen Deckel von einer Kanne heruntergeworfen.
94 diese Spitzbuben.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439