Seite - 67 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Bild der Seite - 67 -
Text der Seite - 67 -
67
Auch eine Form der Selbstdarstellung, ebenfalls in sprecherin-orientierter
Funktion, ist bei KLs Ausführungen feststellbar. Mit der Aussage „Die Montafoner
haben immer gerne geschmuggelt“ bedient sie ein Klischee und bestätigt einen All-
gemeinplatz. Mittels der nachfolgenden Schmugglergeschichte, in der sie selbst die
zentrale Figur darstellt, präsentiert sie sich einerseits selbst als mutig und abenteu-
erlustig. Andererseits erfüllt diese Geschichte eine identifikatorische Rolle. Analog
zur Aussage, dass MontafonerInnen immer gerne geschmuggelt haben, stellt KL
sich als „richtige“ Montafonerin dar. Sie bestärkt damit das eingangs bediente Kli-
schee und versucht nicht zuletzt auch einer unterstellten Erwartungshaltung des
Interviewers zu entsprechen.
3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens
Anschließend an die „Inhaltsverzeichnisse“ biografischer Erzählungen soll an die-
ser Stelle kurz auf den Aufbau oder das „Gerüst“ der Erzählungen eingegangen
werden. Albrecht Lehmann prägte diesbezüglich, im ersten Kapitel wurde bereits
ausführlich darauf eingegangen, den Begriff der „Leitlinien lebensgeschichtlichen
Erzählens“. Die Möglichkeiten der Ausgestaltung von Leitlinien als „Strang meh-
rerer auf einander bezogener Ereignisse“36 sind vielfältig, auch sind mehrere Leitli-
nien in Erzählungen die Regel. Entsprechend viele Leitlinien des Erzählens lassen
sich in den untersuchten 67 Interviews feststellen. Lehmann beschreibt beispiels-
weise die Leitlinie der (Urlaubs-)Reisen, die für einen bestimmten Zeitraum das
lebensgeschichtliche Erzählen prägen. Die Untersuchung von Leitlinien ist deshalb
lohnend, weil ihre Aufdeckung stets zur Erkenntnis wesentlicher, oft der entschei-
denden Inhalte einer biografischen Darstellung führt. Was sich aus gleichartigen
oder einander ähnlichen Elementen innerhalb einer Lebensgeschichte zu einer
Kette fügt, bildet immer einen lebensbestimmenden oder zumindest phasenprä-
genden Schwerpunkt biografischer Rekapitulation. Lehmann zeigte in diesem
Zusammenhang die große Bedeutung von „Lohn-Preis-Leitlinien“ auf, die analog
zur Wirtschaftsentwicklung in den Erzählungen den privaten wirtschaftlichen Sta-
tus der Erzählenden dokumentieren.37
Ähnliches lässt sich für die vorliegenden Montafoner Interviews feststellen. Hier
ist es vor allem das Thema der Arbeit, das in fast allen lebensgeschichtlichen
Erzählungen zumindest über Abschnitte der Erzählungen hinweg eine Leitlinie
darstellt. Dabei kann sich diese Leitlinie als Aneinanderreihung von Beschreibun-
gen der Arbeitsplätze gestalten, als Aufzählung der verschiedenen Arbeitsbereiche,
in denen man während eines Lebens tätig war, oder auch als Beschreibung aller
Errungenschaften und Leistungen, die man im Laufe der Jahrzehnte erarbeitete.
Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich beim Erzählenden um einen Lehrer,
einen Bauern oder einen Bürgermeister handelte – im Gegensatz zum Geschlecht:
36 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 19.
37 Schröder: Die gestohlenen Jahre. S. 75.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439