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294 Mitleid, Wohltätigkeit und Solidarisierung – allesamt Motive, die die Retrospek-
tive auf die Kriegsgefangenen zu angenehmen Erinnerungen und sympathischen
Erzählungen machen.
3.4.29. Von Deserteuren und „Waldhockern“
Mit zunehmender Dauer des Krieges verloren die Soldaten sowohl ihre Motivation
zu kämpfen als auch den Glauben daran, dass dieser Krieg noch zu gewinnen sei.
Die Zahl der Selbstverstümmelungen, meist Arm- oder Beinbrüche, mittels derer
man sich zumindest eine Zeit lang dem Wehrdienst entziehen konnte, nahm zu.386
Die Desertion zählte zu den häufigsten „Entziehungsdelikten“, ihre Zahl wird unter
österreichischen Soldaten auf 30.000 bis 50.000 Personen, das sind immerhin 3 bis
4 % der Soldaten, geschätzt.387 Der Entschluss zu desertieren wog schwer, da auf
dieses Delikt (wie auch auf die Selbstverstümmelung) die Todesstrafe stand und
ein längeres Untertauchen organisatorisch schwer zu leisten war. In den lebensge-
schichtlichen Erzählungen der MontafonerInnen stellen Erzählungen von deser-
tierten Montafonern, die sich sommers in den Wäldern versteckten und darob
„Waldhocker“ genannt wurden, allerdings einen überraschend häufigen Erzählstoff
dar. Diese Tatsache könnte einerseits auf die nahe Schweizer Grenze zurückzufüh-
ren sein: Die Möglichkeit der Flucht in die Schweiz, sofern die Situation im Mon-
tafon zu gefährlich werden sollte, nahm vielleicht Einfluss auf die Entscheidung,
eine Fahnenflucht zu wagen. Andererseits spielt vermutlich die Erinnerungs- und
Erzählgemeinschaft in Bezug auf die gehäuften „Waldhocker“-Erzählungen eine
Rolle. Zumeist fanden sich damals einige Männer zusammen, um sich gemein-
sam im Versteck zu schützen und zu unterstützen. Die Deserteure hatten auch
nach Kriegsende noch Kontakt, da sie ja im Montafon (bzw. sogar in derselben
Gemeinde) wohnten, und erhielten ihre Erinnerungen durch aktives Weiter- und
Wiedererzählen am Leben. Alle Erzählungen von den versteckten Deserteuren
beziehen sich aufs Innere Montafon, was die These des durch die Erzählgemein-
schaft gepflegten Erzählgutes bestärkt. Dieses Erzählgut prägte im Übrigen auch
die Erzähltradition vieler anderer ZeitzeugInnen, vornehmlich aus derselben
Gemeinde, die selbst nicht desertiert oder mit den Deserteuren verwandt waren.
Der 1925 geborene CY ist bis heute in seiner Heimatgemeinde als ehemaliger
„Waldhocker“ und „Heimatverteidiger“ bekannt, da er bei Kriegsende mit Kolle-
gen den fliehenden Nazis die Waffen abnahm.388 Seine Erinnerungen gibt er gerne
in geselligen Runden zum Besten und er entspricht dem, was man gemeinhin als
„guten Erzähler“ bezeichnet. Hier erzählt CY, wie es zu seiner Fahnenflucht kam:
386 Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938–1945. S. 187.
387 Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938–1945. S. 185f.
388 siehe Kapitel 3.4.32: „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439