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430 den bedeutende öffentliche Personen repräsentierten oder in ihrem Arbeitsleben
wichtige Ämter bekleideten. Nur wenige befragte Frauen können mit vergleich-
baren Ämtern oder Funktionen aufwarten, denn nur ein geringer Anteil der Zeit-
zeuginnen hatte überhaupt die Gelegenheit, eine Berufsausbildung zu machen.
Immerhin aber bestätigen Umfragen, wie lange VorarlbergerInnen einem traditi-
onellen Rollenbild verhaftet sind und waren, wenn sich noch in den 1990er Jahren
71 % der Männer und 69 % der Frauen dafür aussprachen, dass sich Frauen vor
allem um Familie und Kinder kümmern sollten.15 Die Tatsache, dass sich diese
Werte auch in den lebensgeschichtlichen Erzählungen widerspiegeln, weist darauf
hin, dass durchaus die traditionelle Sozialisierung der Befragten als Erklärung für
diese Gender-Spezifika herangezogen werden kann.
Die bereits angesprochene Funktion von Erzählungen in Hinblick auf die
Selbstdarstellung der ZeitzeugInnen eröffnet ebenfalls Einblicke in geschlechts-
spezifische Unterschiede des Erzählens. So werden Erzählstoffe, die vor allem zur
Selbstdarstellung der ErzählerInnen dienen, vorrangig von Männern in die lebens-
geschichtliche Darstellung eingeflochten. Konkret werden beispielsweise Laus-
buben- und Schulgeschichten, Wilderer- und Schmugglergeschichten oder auch
Erzählungen von Deserteuren oder „Heimatverteidigern“ fast ausschließlich von
Männern zum Besten gegeben. Diese besonders unterhaltsamen, schwankartigen
Geschichten, die nicht selten den Erzähler oder eine andere Figur zum Helden
stilisieren, sind in Erzählungen von Frauen kaum zu finden. Ganz allgemein kann
hierzu noch festgestellt werden – vorgreifend auf die nachfolgenden Kapitel –, dass
Frauen sich selbst und ihre Darstellungen tendenziell weniger schillernd inszenie-
ren, vielleicht auch um sich selbst die (gerne Frauen zugeschriebene) Tugend der
Bescheidenheit zu attestieren. Männer hingegen bemühen sich häufiger in Bezug
auf Ausdruck, Erzählfluss und Strukturierung der Geschichten, ihre Erzählungen
unterhaltsam zu gestalten und die Zuhörenden zum Lachen zu bringen.
Zusammenfassend muss allerdings angemerkt werden, dass bei einigen
Unterschieden in Männer- und Frauenerzählungen schließlich doch vorrangig
Gemeinsamkeiten festgestellt werden können. Wesentlich einflussreicher als das
Geschlecht gestaltet sich bei der Auswahl der Erzählstoffe und die Art der Dar-
stellung das Temperament, die Übung und nicht zuletzt die Tagesverfassung der
ErzählerInnen.
4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches
Lebensgeschichtliche Erzählungen erlauben Rückschlüsse auf bestimmte Erinne-
rungs- und Erzähldichten im retrospektiven Blick auf das eigene Leben. So kann
beispielsweise festgestellt werden, dass die erste Hälfte des eigenen Lebens bzw. die
ersten beiden Drittel (Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter) in den Erzäh-
15 Kemmerling-Unterthurner, Ulrike: Familie, Frau, Jugend. In: Mathis, Franz und Wolfgang Weber
(Hg.): Vorarlberg. Zwischen Fußach und Flint, Alemannentum und Weltoffenheit. (= Geschichte
der österreichischen Bundesländer seit 1945 4) Wien 2000. S. 274–304. Hier S. 275.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439