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Vorwort
„Der Mensch hat keine Geschichte mehr […], vielmehr haben Menschen nur
mehr Geschichten“1. So interpretiert Harm-Peer Zimmermann Foucaults Über-
legungen zur Postmoderne in „Die Ordnung der Dinge“2. Die Vorstellung von
der Geschichte im Sinne einer großen universalen Erzählung mit quasi absoluter
Geltung habe ausgedient, hingegen würden sich Menschen, während sie sprechen,
arbeiten und leben, in ihrem Sein völlig mit Geschichten verflechten. Es gäbe nicht
nur eine Geschichte zu erzählen, diese eine Geschichte finde sich in der Pluralität
der Diskurse relativiert und perspektiviert.3 Das Bild einer pluralistischen Gesell-
schaft mit vielfältigen, auf dem individuellen Erleben basierenden Geschichten
prägte nicht nur die Geschichts- und die Sozialwissenschaften. Ein ähnlicher Para-
digmenwechsel fand auch in den Kulturwissenschaften und hier unter anderen in
der Erzählforschung Eingang, die sich nun nicht mehr ausschließlich den großen,
in sich geschlossenen, ästhetisch gestalteten Erzählungen widmete, sondern ihr
Interesse zusätzlich auf Geschichten richtete, die alltäglich zu sein scheinen und
die nicht immer zu einem plausiblen Ende führen.4
Es ist eine Fülle von diesen kleinen Geschichten mit oft unplausiblem Ende, die im
Rahmen mehrerer Dutzend biografischer Interviews die Basis für diese Arbeit bil-
det. Montafonerinnen und Montafoner erzählten ihre Lebensgeschichten in aus-
gewählten Episoden und legten damit ihre Version der Geschichte dar, die als eine
Vielzahl von Geschichten, die sich ergänzten oder auch widersprachen, heute in
Form des „ZeitzeugInnenarchivs Montafon“ einen Schatz für nachfolgende Gene-
rationen von Forschenden und Interessierten darstellen. Dieser Schatz ist all jenen
Menschen zu verdanken, die in den letzten Jahren ihr Wissen und ihre Lebensge-
schichte der Forschung zur Verfügung stellten und sich unter teils großem persön-
lichen Aufwand bereit erklärten, für mehrstündige Interviews zur Verfügung zu
stehen. Bereits zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Arbeit ist ein nicht geringer
Teil dieser ZeitzeugInnen bereits verstorben, dennoch soll ihnen sowie den das
Projekt und damit auch diese Arbeit unterstützenden Familien an dieser Stelle aus-
drücklich für die freundschaftliche Zusammenarbeit gedankt werden.
Weitere Dankesworte sollen explizit an jene Personen und Einrichtungen gerich-
tet werden, die im Laufe des Forschungsprozesses zu einem Gelingen beigetragen
1 Zimmermann, Harm-Peer: Über die Würde narrativer Kulturen. Mythen und Lebensgeschichten
im Spiegel postmodernen Wissens. In: Hengartner, Thomas und Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.):
Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Hamburg 2005. S. 119–144. Hier
S. 121.
2 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt
a. M. 197421.
3 Zimmermann: Über die Würde narrativer Kulturen. S. 121.
4 Zimmermann: Über die Würde narrativer Kulturen. S. 136.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439