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Während in Bezug auf die Kinder- und Jugendjahre die vielfachen Pflichten
und die harte Arbeit, die auch die Kleinsten (oft anstelle der Spielzeit oder gar
des Schulbesuchs) leisten mussten, im Vordergrund der Erzählungen stehen – und
darauf verwiesen wird, dass „einem die Arbeit nicht geschadet hätte, im Gegen-
teil“ –, verändert sich die Interpretation der Rolle der Arbeit für das eigene Leben
nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Jugendlichen sind erwachsen geworden, haben
Krisen und Krieg überstanden und bemühen sich nun, ein eigenes Leben aufzu-
bauen: Die Erzählstoffe der Ausbildung, der Stellensuche, des Hausbaus oder der
Familiengründung dominieren die Darstellungen. Zunächst werden die schlech-
ten wirtschaftlichen Zeiten beschrieben, die allmählich jedoch durch den unbän-
digen Arbeitswillen und das Pflichtbewusstsein überwunden wurden. Dem Topos
vom Wiederaufbau in den Nachkriegsjahrzehnten liegt die Vorstellung zugrunde,
diesen Aufschwung aus eigener Kraft, durch harte Arbeit und große Leistung,
geschafft zu haben. Globalwirtschaftliche Aspekte sowie finanzielle und wirtschaft-
liche Unterstützungen seitens wirtschaftlich starker Staaten bleiben diesbezüglich
unerwähnt und vielleicht auch unbedacht. Die Generation, die schon in ihren
Kindheitserinnerungen die harte Arbeit betont, machte Arbeit ihr Leben lang zum
Ethos und Ideal – und führt daher auch den Wirtschaftsboom vor allem auf die
eigene Arbeit(smoral) zurück. Konsumgüter wie Radios, Fernseher, Motorräder
oder Autos einerseits, aber auch erste Urlaube am Meer oder Städtereisen, fungie-
ren in den Erzählungen als materielle Symbole für persönlich errungene Leistung.
Auch in Bezug auf Krankheit, Behinderung und Alter wird die Fähigkeit
zur Arbeit als wichtiger Faktor für den Lebenswillen und das Selbstwertgefühl
beschrieben. Arbeit bzw. Arbeitsfähigkeit erscheint vielen als der Sinn des Lebens
schlechthin, zumindest aber als wichtiger Faktor für ein lebenswertes Leben.
4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen
Ein fundierter Vergleich der Erzählungen von Männern mit jenen von Frauen ist
auf Basis des erhobenen Quellenmaterials nur eingeschränkt möglich, da der Frau-
enanteil unter den ZeitzeugInnen mit 25 % sehr gering ist. Neben vielen Gemein-
samkeiten der Erzählungen können aber sehr wohl Unterschiede festgestellt wer-
den, die hier kurz angesprochen werden sollen.
Anschließend an das vorhergehende Kapitel zum Lebensthema Arbeit kann
etwa festgestellt werden, dass der berufliche Werdegang – oder die Beschreibung
der „Karriere“ – besonders in der männlichen Autobiografie eine Rolle spielt.
Während Männer ihr Leben häufig als Geschichte einer beruflichen Entwicklung
darstellen, machen Frauen tendenziell die Familie zum zentralen Lebensthema.14
Diese Beobachtung kann einerseits auf die traditionelle Sozialisierung der befrag-
ten Generationen während der 1930er, 1940er und 1950er Jahre zurückgeführt
werden, andererseits erklärt sie sich auch durch die Erhebungsmethode: Ein Teil
der männlichen Befragten wurde für ein Interview ausgewählt, weil die Betreffen-
14 Vgl. Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 186.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439