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98 Wie das häufig auch in anderen Erzählungen der Fall ist, stellt die Erzählerin hier
einen der werthaltigen Endpunkte ihrer Geschichte gleich voran: „Heute hat die
‚Burnerei‘ überhaupt keinen Wert.“ Diese vorangestellte Aussage übt implizit Kritik
am Wandel bzw. nimmt bedauernd zum Niedergang der Landwirtschaft im Laufe
des 20. Jahrhunderts Stellung. Abgesehen von diesem Topos, den BX bewusst ins
Zentrum ihrer Erzählung stellt, ist der dargestellte Ausschnitt in mehrfacher Hin-
sicht interessant: Im Rahmen der Beschreibung des Schrunser Viehmarktes, der
von vielen ZeitzeugInnen als das Ereignis im bäuerlichen Jahreskreis beschrieben
wird, stellt BX die emotionale Bindung zwischen einer Bauernfamilie und ihrem
Vieh dar, die die Tiere nicht nur als Geldwert betrachtete, sondern sich auch über
den Verkauf an einen guten Platz freuen konnte. Andererseits setzt sie die Land-
wirtschaft im Montafon ins Verhältnis zu den Bregenzerwälder oder schwäbischen
Bauern und verstärkt dadurch das in ihrem Interview ganz allgemein omnipräsente
Bild von den armen, benachteiligten und ständig unter Druck stehenden Monta-
foner Bauernfamilien. Dabei handelt es sich im Übrigen um ein (Selbst-)Bild, das
auch in vielen anderen lebensgeschichtlichen Erzählungen bestätigt wird. Dieses
Selbstbild von der Geschichte des Tales, aber auch von der eigenen Biografie spie-
gelt sich teils im Topos von der „harten, arbeitsamen Kindheit“ wider, aber auch
in den gründlichen Beschreibungen der bäuerlichen Wirtschaftsweise, am Beispiel
derer dargestellt wird, wie arbeitsaufwändig das Überleben einer Bauernfamilie
sein konnte. Wer eine Landwirtschaft hatte, kam zumeist mit jenen immer glei-
chen Produkten, die im Montafon produziert werden konnten, über die Runden.
Wie im vorangegangenen Kapitel aufgezeigt wurde, wird von Menschen leichter im
Gedächtnis behalten, was in der Gesellschaft bzw. der Erzählgemeinschaft gemein-
hin als relevant erachtet wird. Bestimmte Erzählstoffe erhalten so mehr Bedeutung
als andere, die zusehends in Vergessenheit geraten oder zumindest von sich aus
kaum erwähnt werden. Das erklärt die besonders deutlich ausgeprägte Erzähltradi-
tion in Bezug auf landwirtschaftliche Techniken, die etwa Geißhut, Bergmahd und
Heuzug, Leben und Arbeiten auf Maisäß und Alpe, Holzarbeit oder den Schrun-
ser Viehmarkt in den Vordergrund stellt. Zahlreiche andere bäuerliche Arbeiten
sind im Laufe der Jahrzehnte offensichtlich außerhalb die Erzähltradition geraten:
Kartoffel- und Getreideernte, Heuarbeit im Tal, Anbau im hauseigenen Gemüse-
garten, Holzarbeit im Tal für den Wintervorrat etc. Diese Themenfelder werden
kaum bzw. nur am Rande erwähnt, was unter anderem damit zusammenhängt,
dass weniger außergewöhnliche, strukturlose, alltägliche Handlungsabläufe ten-
denziell weniger erinnert werden.
3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft
Eine Schwierigkeit für die größtenteils sich selbst durch die eigene Landwirtschaft
versorgenden Familien stellte die Einbindung des Familienbetriebs in den Geld-
kreislauf dar: Milchprodukte, Brot, Kartoffeln, Fleisch und Obst hatte man selbst.
Woher aber das Geld für andere Produkte wie Zucker, Stoffe, Dienstleistungen oder
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439