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432 sich in verschiedenen Abschnitten der biografischen Darstellungen durchaus
unterscheidet. Unterschieden wird dabei das zyklische Zeitenverständnis, das das
Leben als eine Abfolge kleiner Zyklen (z.B. Tage) im Rahmen großer Zyklen (z.B.
Jahre oder Jahreszeiten, aber auch die Generationenfolge) interpretiert. Das line-
are Zeitenverständnis nimmt das Leben vorrangig als eine Aneinanderreihung
unwiederholbarer Ereignisse, die mitunter aufeinander aufbauen, wahr. Während
in den Erzählungen von der Kindheit, in denen stark auf die traditionelle land-
wirtschaftlich geprägte Gesellschaft Bezug genommen wird, vielfach ein zyklisches
Zeitenverständnis vorherrscht, wird das eigene Leben in Bezug auf die histori-
schen Ereignisse während der Krisen- und Kriegszeiten als linear dargestellt. Das
lineare Zeitenverständnis bleibt auch in Bezug auf die Nachkriegsjahrzehnte und
das spätere Leben vorrangig, wenn eine persönliche Stufenleiter im Arbeitsleben,
im Hausbau und der Familienentwicklung skizziert wird.
4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung,
Idyllisierung, Vergleich
Die zweite Forschungsfrage „Welche Erzählstrukturen und Muster kehren in den
lebensgeschichtlichen Erzählungen wieder? Wie werden die Geschichte des Tales und
die eigene Lebensgeschichte verquickt?“ widmet sich den Erzählstrukturen, Muster-
erzählungen sowie den Leitlinien und Topoi des lebensgeschichtlichen Erzählens.
Eine umfassende inhaltliche Zusammenfassung aller kulturellen Vorlagen
der Darstellung und Bewertung von Erzählstoffen ist an dieser Stelle nicht mög-
lich. Exemplarisch sollen daher jene Erzählstoffe herausgegriffen werden, die sich
für die ErzählerInnen als besonders brisant oder wichtig darstellten und so die
unterschiedlichen Strategien am dynamischsten und deutlichsten dokumentie-
ren. Dazu muss vorausgeschickt werden, dass Mustererzählungen, Leitlinien und
Topoi immer wieder ineinandergreifen. Die Mustererzählung einer Lausbubenge-
schichte ist beispielsweise sowohl in verschiedenen Biografien in ähnlicher Form
dokumentierbar, als sie auch eine lebensgeschichtliche Leitlinie darstellen kann,
wenn der Erzähler sich selbst in allen Lebensphasen als frecher, mutiger Held
inszeniert. Der entsprechende Topos zur Lausbubengeschichte wiederum wäre
etwa „Wir haben den so lächerlich gemacht!“ (CY) und handelt von der befriedi-
genden Bloßstellung des Kontrahenten. Es soll nachfolgend also weniger darum
gehen, die Erzählstoffe in Hinblick auf diese vier Dimensionen der Darstellung zu
selektieren und zu analysieren (diese Aufgabe erfüllten die Kapitel 3.4.1.–3.4.50.),
sondern drei der wichtigsten Strategien und Strukturen herauszugreifen, am Bei-
spiel derer das Wie des lebensgeschichtlichen Erzählens am deutlichsten gemacht
werden kann.
Die Art und Weise, wie Erzählungen aufgebaut werden, welche Spannungs- und
Unterhaltungsmomente in ihnen gesetzt werden, wie Aussagen getroffen und
Argumentationen untermauert werden und nicht zuletzt zu welchen Schlüssen
oder werthaltigen Endpunkten die ErzählerInnen gelangen, erweist sich in Bezug
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439