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414 Wie bereits eingangs im Kapitel über Topoi (vor allem des Zeitenvergleichs)
dargestellt wurde, geht ein Vergleich des „Früher“ mit dem „Heute“ häufig mit
einer ablehnenden oder gar aggressiven Haltung gegenüber dem „Heute“ bzw.
auch der das „Heute“ repräsentierenden InterviewerIn einher. Belege für den
verbreiteten Kultur- und Jugendpessimismus der ZeitzeugInnen bestätigen diese
negative Attitüde deutlich – sind somit allerdings nicht zuletzt als logische Konse-
quenz bzw. als Produkt der Methode des Vergleichs zu verstehen.
3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder
Die Berücksichtigung des Gender-Aspekts in lebensgeschichtlichen Erzählungen,
das heißt die Frage nach den sozialen Geschlechterrollen in den Darstellungen,
hatte in sämtlichen Betrachtungen der Erzählstoffe in den letzten 49 Kapiteln
hohen Stellenwert. Abschließend soll dem Thema der Geschlechterrollen und
Geschlechterbilder nochmals ein separates Kapitel gewidmet werden, in dem jene
Aspekte von Gender in lebensgeschichtlichen Erzählungen aufgezeigt werden, die
bislang noch nicht als Querschnittsmaterie in anderen Erzählstoffen thematisiert
wurden. Gerade in Hinblick auf Frauen- und Männerrollen lohnt sich eine einge-
hendere Betrachtung, die allerdings schon auf den ersten Blick offenbart, dass auch
in Bezug auf Genderfragen der Wandel im 20. Jahrhundert ein zentrales Thema ist.
XX ♀, geboren 1907:
XX: Dann haben wir auch noch eine Säge, wo man das Fleisch versägen kann.
Meine Tochter hat … jetzt macht sie’s eigentlich nicht mehr, aber vor Jahren.
Wenn jemand ein Schwein geschlachtet hat, dann zum Zerschneiden hat sie
die Säge gebraucht. Das ist eine extra Säge für’s Fleisch.
I: Und waren das eher Arbeiten für Frauen oder haben das Männer gemacht?
XX: Na, das haben schon die Männer gemacht. Ich weiß, eine Frau hat, mein
Mann hat das gesagt, eine Frau hat schon ein Schwein geschlachtet, aber das
war dann schon mehr ein Mann als eine Frau. [lacht]
TG ♂, geboren 1910:
TG: Ja und die Eltern, wo diese Haufen Kinder gehabt haben, die haben nicht
schöne Zeiten gehabt. Wo ich größer gewesen bin, das habe ich oft gesehen,
dass die Mutter den Löffel abgelegt hat und nicht genug gegessen, dass wir
„gnüagr“520 hatten. Oft. Weil ich einmal größer gewesen bin, habe ich das oft
gesehen bei der Mutter. Sie hätte gerne auch mehr gehabt, aber sie hat es den
Kindern gelassen. Was eine Mutter im Leben tut, das ist nicht zu sagen und
nicht zum schätzen, für seine Familie. Viel mehr als ein Vater.
520 ein bisschen mehr.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439