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als Ergänzung oder Rekombination von Teilinformationen vor sich geht, hat ja
auch den Vorteil, dass beispielsweise Objekte wiedererkannt werden können, auch
wenn sie nur ausschnittsweise wahrzunehmen sind. Diese Ergänzungs- und Bin-
dungsprozesse können aber auch zur Folge haben, dass einmal Eingespeichertes
verändert wird und im Extremfall überhaupt nicht mehr im ursprünglichen Kon-
text aktivierbar ist. Information scheint dann wie vergessen, kann aber schließ-
lich – eben aufgrund der kommunikativen Struktur des Gedächtnisses – in einem
veränderten Kontext über neue Assoziationen wieder aktiviert werden. Die Erin-
nerung lebt in diesem Fall wieder auf, wenn auch in einem anderen narrativen
Kontext.62
Diesen für interviewgestützte Forschungsarbeiten zweischneidigen Forschungs-
ergebnissen kann abschließend folgende Synthese nachgestellt werden: Biografi-
sche Forschung mithilfe von Erzählungen im Rahmen von Interviews hat nicht
nur eine Kontrollfunktion (beispielsweise zur Überprüfung historischer Ereignisse
im Sinne faktischer Richtigkeit), sondern darüber hinaus eine Erschließungsfunk-
tion. Das Erzählen „leuchtet wie eine Sonde die tieferliegenden Schichten der
Erfahrung, der Einstellungen und Emotionen aus“63 und bewirkt nicht zuletzt,
dass verloren geglaubte Erinnerungen wiederkehren. Gerade Emotionen spielen
während des Erinnerungsprozesses eine große Rolle, da erzählte Erinnerungen in
der unmittelbaren sozialen Interaktion (beispielsweise eines Interviews) emotional
wirksam werden und teils auch Sichtweisen auf die Geschichte erzeugen, gegen die
eine auch noch so fundierte historische Faktendarstellung wenig ausrichten kann,
weil diese emotional nicht in vergleichbarer Weise besetzt sein kann. Es kann
zusammenfassend also durchaus behauptet werden, dass individuelle und kollek-
tive Vergangenheit in sozialer Kommunikation beständig neu gebildet werden.64
Provokant mit den Worten des Neurowissenschaftlers Wolf Singer auf den Punkt
gebracht, bedeutet dies: „Wahrnehmungen und Erinnerungen sind also datenge-
stützte Erfindungen.“65
1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen
lebensgeschichtlicher Interviews
Wie die vorangegangenen Ausführungen verdeutlicht haben, sind Erinnerungen
in großen Teilen (Re-)Konstruktionen des Gedächtnisses. Aus diesem Sachverhalt
ergibt sich nun – gerade in Bezug auf das Thema der vorliegenden Arbeit – die
Frage, nach welchen Kriterien, Leitlinien und Mustern, aber auch Normen und
Werten diese Erinnerungen konstruiert werden: Was beeinflusst in der Folge die
62 Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. S. 85.
63 Knoch, Peter: Schreiben und Erzählen. Eine Fallstudie. In: Vorländer, Herwart (Hg.): Oral History.
Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen 1990. S. 49–62. Hier S. 61.
64 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. S. 44.
65 Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. S. 86.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439