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190 haben immer gut gelebt von dem“, oder, hat es geheißen, „ja, Bub, du musst
jetzt das Geschäft übernehmen.“ Und die Landwirtschaft. Die Landwirtschaft
ist nicht allzu groß gewesen.
BD bezeichnet sich als „Opfer der Tradition“ und wählt diesen vielsagenden Ter-
minus sicherlich nicht zufällig. Der Erzähler bringt damit zum Ausdruck, wie
schwierig es für ihn war, die Entscheidung der Eltern zu akzeptieren, gerade weil
sie sein restliches Leben bestimmen sollte. Indem er allerdings ihre Argumente
anführt („wir haben immer gut gelebt von dem“) räumt er auch die Perspektive der
Eltern ein und rechtfertigt damit nicht nur den Druck seiner Eltern, sondern auch
sein eigenes Nachgeben. Die Mutter allein wird – das sei hier am Rande erwähnt
– kaum je als Autorität erinnert. Ihre Darstellung entspricht meist dem Bild der
fürsorglichen und aufopfernden Frau und damit klassischen Geschlechterrollen,
auf die in Kapitel 3.4.50. noch detaillierter eingegangen wird.
Autoritäten werden in den lebensgeschichtlichen Erzählungen auch in ande-
ren Zusammenhängen angesprochen, etwa im Alpwesen, wo ein Senn oder Hirt
durchaus mittels körperlicher Gewalt den Gehorsam der Mitarbeiter einforderten.
Auch ein diffuses dörfliches Kollektiv wird in manchen Erzählungen als Autorität
in Bezug auf das eigene Verhalten angegeben – beispielsweise in Form des Topos
„Ja, was würden die Leute sagen?“.
Die dörfliche Öffentlichkeit in Form vieler Individuen wurde von ZeitzeugIn-
nen mitunter als Autorität empfunden, die Entscheidungen und besonders Ver-
haltensnormen maßgeblich prägten. Autorität wurde in den lebensgeschichtlichen
Erzählungen erwartungsgemäß vielfältig erfahren und wirkte sich unterschiedlich
auf die ErzählerInnen bzw. ihre lebensgeschichtlichen Darstellungen aus. Bemer-
kenswert ist jedenfalls, dass Autoritäten retrospektiv einen derart großen Stellen-
wert für die eigene Lebensgeschichte haben, dass sie von zahlreichen ZeitzeugIn-
nen ausführlich beschrieben werden.
3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“
Die vorangegangenen Kapitel widmeten sich sehr persönlichen, teils nicht dezi-
diert historischen Erzählstoffen in lebensgeschichtlichen Erzählungen. Ihr zeitli-
cher Bezug ist nicht immer an konkreten historischen Ereignissen festzumachen,
die Erzählungen erlauben vorrangig Einblicke in die Familiengeschichten und das
Alltagsleben und wurden zumeist entspannt und frei erzählt.
Mit dem Kapitel über die 1930er Jahre beginnt die Auseinandersetzung mit
politischen Themenbereichen in den biografischen Erzählungen, die für viele
ZeitzeugInnen mitunter schwierig anzusprechen und über die nicht alle offen zu
sprechen bereit waren. Es ist charakteristisch für Erzählungen, die direkt oder
indirekt mit der faschistischen Geschichte Österreichs verbunden sind, dass die
Darstellungen der ErzählerInnen komplexer, die Emotionen stärker und Vorsicht
und Zurückhaltung beim Erzählen größer werden. Bei den Geschichten über die
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439