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18 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews
„Denn dies habe ich tatsächlich erfahren: daß weit stärker zum Verstummen als
zum Reden die meisten Menschen bringt, wer sie befragt, um solche Ereignisse auf-
zuschreiben, denen diese Leute zugesehen oder die sie gemacht oder mitgemacht
haben.“5 Der Historiker Rolf Hochhuth bringt das Dilemma einer Forschung auf
Basis von Interviews auf den Punkt. Zahlreiche Faktoren beeinflussen eine Inter-
viewsituation, die im schlimmsten Falle bewirken, dass Informationen nicht nur
„gefärbt“, sondern vielleicht sogar vorenthalten werden. Eine Auseinandersetzung
der Forschenden mit diesen Faktoren ist somit unumgänglich, umso mehr, als seit
nunmehr fast drei Jahrzehnten das (qualitative) Interview als Methode nicht nur in
der Erzählforschung, sondern allgemein in den Kultur- und Sozialwissenschaften
etabliert ist und viele Forschungsverfahren regelrecht dominiert. Besonders das
narrative Interview kommt in der empirischen Gegenwartsforschung häufig zum
Einsatz.6
Die häufigste, im Allgemeinen auf jedes qualitative Interview bezogene Kritik
konzentriert sich auf die Zufälligkeit, die Einseitigkeit sowie die Subjektivität der
durch ein Interview gewonnenen Informationen. Gespräche repräsentieren in
ihren expliziten Inhalten nicht das Denken oder Handeln von Personen, sondern
es handelt sich um eine geglättete Außendarstellung gegenüber Dritten, in der
die konkrete Gesprächssituation ein wesentlicher Einflussfaktor ist. Demzufolge
lassen Interviews auch nicht die „Wahrheit“, sondern vielmehr eine selektive und
perspektivisch gefärbte Darstellung erkennen.7 Diesen Beanstandungen kann und
muss entgegengehalten werden, dass das qualitative Interview eben diese Merk-
male mit einem großen Teil der Quellen teilt. Mithilfe quellenkritischer Vorge-
hensweisen – will heißen: formaler, sprachlicher, sachlicher und ideologiebezoge-
ner Kritik – kann auch mit den Informationen aus biografischen Interviews ohne
Weiteres wissenschaftlich gearbeitet werden.
Nur am Rande erwähnt werden sollen hier jene Problematiken, die als „Kunst-
fehler“ bezeichnet werden können. Zu ihnen zählen etwa die Auswahl von Inter-
viewenden mit zu geringer inhaltlicher oder auch theoretischer Kompetenz,
Planungsfehler wie beispielsweise die Fehleinschätzung des Verhältnisses von
Informationsinteresse und zur Verfügung stehender Zeit, Probleme mit zu lan-
gen Leitfäden, die Tendenz zu einem dominierenden Kommunikationsstil (zum
Beispiel gehäufte suggestive Fragen), Schwierigkeiten und fehlende Geduld beim
Zuhören und beim Aufgreifen von Anhaltspunkten für Nachfragen,8 oder auch
5 Hochhuth, Rolf: Wer eine Geschichte erzählt … In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung
und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt a. M. 1980. S. 186–213. Hier
S. 188.
6 Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie. S. 148.
7 Froschauer, Ulrike und Manfred Lueger: Das qualitative Interview. Wien 2003. S. 215.
8 Hopf, Christel: Qualitative Interviews – ein Überblick. In: Flick, Uwe, Ernst von Kardorff und Ines
Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 20075. S. 349–360. Hier S. 358f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439