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moralischen Regel legitimiert werden soll. Viele Männer der Kriegsgeneration
sehen sich in diesem spezifischen Fall mit zwei konträren Moralvorstellungen
konfrontiert: Auf der einen, historischen Seite steht die Moral eines kriegstrei-
benden faschistischen Regimes, für das die jungen Männer gezwungen waren, ihr
Leben aufs Spiel zu setzen, auf der anderen Seite stehen die demokratischen, an
Menschenrechten orientierten Wertvorstellungen der Gesellschaft am Anfang des
21. Jahrhunderts. Als Bürger eines demokratischen Staates versuchen sie sechzig
Jahre danach, zwischen diesen Moralvorstellungen zu argumentieren und nach-
zuweisen, dass ihr Handeln als Wehrmachtssoldaten des Zweiten Weltkrieges,
oder als Parteigänger des Nationalsozialismus, oder als Mitglieder einer Familie,
für die sie sich verantwortlich fühlten, letztlich doch moralisch angemessen war.
Auf diese rechtfertigende Weise wird einerseits die Verantwortung für das eigene
Handeln übernommen, die Folgen dieses Handelns andererseits bestritten.354 So
kommt es zu einem Muster von Kriegserzählungen, in denen die Erzähler selbst
niemals Täter sind. Als Täter des Krieges werden teils die deutschen Soldaten, teils
die SS-Männer dargestellt, während man selbst lediglich gezwungen wurde, bei
diesem (deutschen) Krieg mitzumachen – und dabei „eigentlich nie auf einen Rus-
sen geschossen“ hat (IJ). Dass kriegshistorische Dokumentationen und Forschun-
gen im Gegensatz zum in Österreich jahrzehntelang beschworenen Opfer-Mythos
(Österreich als Opfer des Deutschen Reiches) ganz klar die nicht weniger grau-
same Täterrolle österreichischer Soldaten nachweisen,355 daran soll hier nur am
Rande erinnert werden.
3.4.24. Gefangenschaft
Ein großer Teil der Wehrmachtssoldaten geriet Ende des Zweiten Weltkrieges in
Gefangenschaft. Aus diesem Grund findet dieser Erzählstoff auch in den Monta-
foner lebensgeschichtlichen Erzählungen sehr häufig Eingang. Die Lebensbedin-
gungen der deutschen Kriegsgefangenen in den 20 verschiedenen Gewahrsams-
ländern können eher durch ihre Unterschiede, als durch ihre Gemeinsamkeiten
charakterisiert werden. In englischer und amerikanischer Gefangenschaft standen
beispielsweise von Anfang an ausreichend Verpflegung und Kleidung zur Verfü-
gung, auch waren die Kriegsgefangenen aus den westlichen Gewahrsamsländern
spätestens 1948 wieder entlassen worden.356
Der 1915 geborene OO bemerkt in seinen Schilderungen der Kriegsgefangen-
schaft in einem amerikanischen Lager, dass er „gut behandelt worden“ sei:
354 Löffler: Zurechtgerückt. S. 96.
355 Vgl. Safrian, Hans: Österreicher in der Wehrmacht. In: Dokumentationsarchiv des österreichi-
schen Widerstandes und Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport (Hg.): Österrei-
cher und der Zweite Weltkrieg. Wien 1989. S. 39–58.
356 Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr. S. 9.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439