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32 Formung einer Erinnerungserzählung? Der Begriff der „Konstruktion“ deutet
bereits an, dass das Beschreiben von Erinnerungen nicht so weit von den klas-
sischen Erzählungen, wie sie die Volkskunde seit ihren Anfängen untersuchte,66
entfernt ist, wie man vielleicht meinen würde. So gelten für das Generieren von
biografischen Erzählungen in weiten Teilen ähnliche Regeln und es treffen ähnli-
che Merkmale zu, wie das bei den klassischen Erzählungen der Fall ist. Die Art und
Weise, wie Menschen ihr Leben im Rückblick betrachten und es schließlich einem
Publikum präsentieren, orientieren sich nur scheinbar am Leben selbst. Vielmehr
sind es unter anderen Einflussfaktoren auch kulturelle Vorlagen, wie ein Leben zu
erzählen sei, die hier wirksam werden.
1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung
Seit den Brüdern Grimm wird die kulturwissenschaftliche Erzählforschung von
der Klage vom vermeintlichen Niedergang des Erzählens begleitet. Bis heute ist
diese kulturpessimistische Rede, die von der Krise oder gar dem Entschwinden
des Erzählens spricht, nicht verstummt. Ingo Schneider stellt allerdings ganz im
Gegenteil statt einer Krise eine Konjunktur des Erzählens fest. Es könne gar keine
solche Krise geben, so Schneider, da es sich beim Erzählen um eine der grund-
legendsten Kulturtechniken handelt. Durch die rasante Verbreitung neuer Infor-
mationstechnologien um die Jahrtausendwende käme es sogar zu einer Zunahme
des Erzählens, das durch die neuen Möglichkeiten wie etwa eigener Websites zu
bestimmten Themen, in Form von Weblogs, oder auch im Rahmen von News-
groups, Foren, Mailing-Lists (und insbesondere den Social Networks) neuen Auf-
wind erfährt.67
Dazu ist es freilich notwendig, die althergebrachten Definitionen von Erzäh-
lung neu zu überdenken und vor allem neu zu definieren. Mitte des 20. Jahrhun-
derts wurde in der Erzählforschung das zentrale Forschungsfeld der klassischen
Formen der Volkserzählung durch die Entdeckung der „Einfachen Formen“68 –
dabei handelte es sich vor allem um Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus,
Memorabile, Märchen und Witz – um mehrere neue Forschungsbereiche erwei-
tert.69 Seit den 1970ern dehnte sich das wissenschaftliche Selbstverständnis der
Erzählforschung zusehends aus, und mit der Wende der Volkskunde zur Alltags-
kulturwissenschaft rückte das alltägliche Erzählen in den Vordergrund.70
66 Unter „klassischen Erzählungen“ werden v.a. Märchen und Sage, aber auch Witz, Schwank, Sprich-
wort, Rätsel etc. verstanden. Vgl. Röhrich, Lutz: Erzählforschung. In: Brednich, Rolf (Hg.): Grund-
riß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin
20013. S. 515–542. Hier S. 515.
67 Schneider: Über das multidisziplinäre Interesse am Erzählen. S. 4f.
68 Vgl. Jolles, André: Einfache Formen. Darmstadt 1958.
69 Bausinger, Hermann: Formen der „Volkspoesie“. (= Grundlagen der Germanistik, Bd. 6) Berlin
1968. S. 51.
70 Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie. S. 146.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439