Page - 195 - in Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Image of the Page - 195 -
Text of the Page - 195 -
195
nicht auf die Tausend-Mark-Sperre zurückgeführt werden.269 Die bis heute wäh-
rende Überzeugung, die Tausend-Mark-Sperre sei eine der Hauptursachen für die
Anschluss-Bereitschaft Österreichs gewesen, rührt schließlich eher aus der beglei-
tenden zeitgenössischen deutschen Propaganda gegen ein von Dollfuß regiertes
Österreich sowie aus der ohnehin schlechten wirtschaftlichen Situation in den
1930er Jahren.270
Ein weiterer Aspekt an JJs Erzählung ist bemerkenswert: Hitler wird in den lebens-
geschichtlichen Erzählungen – das soll in den nachfolgenden Kapiteln noch deut-
lich aufgezeigt werden – regelrecht zu einer „Kristallisationsgestalt des Bösen“271
hochstilisiert. Als das personifizierte Böse, als genialer Stratege und als mächtiges
Ungeheuer wird ihm als Person retrospektiv ein Großteil des Leides, der Kriegs-
schuld und der Verbrechen zugeschoben, mit deren kritischer Berichterstattung
und wissenschaftlicher Aufarbeitung sich die ZeitzeugInnen heute konfrontiert
sehen. Auch in JJs Erzählung wird deutlich, welche Macht Adolf Hitler über das
Verhalten großer Bevölkerungsgruppen oder gar Nationen zugeschrieben wird.
Die Konsequenz aus dieser Darstellung ist, dass angesichts dieser Kristallisations-
figur des Bösen die einfachen Menschen kaum eine Chance hatten, den Lauf der
Geschichte zu beeinflussen. Das Verhalten der Menschen damals, und damit auch
der ZeitzeugInnen, wird implizit gerechtfertigt bzw. zur Opferrolle uminterpre-
tiert.
3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die
MontafonerInnen
Der „Anschluss“ wurde der Bevölkerung als einziges großes Fest präsentiert. Feier-
lichkeiten, Aufmärsche, Paraden, Fahnenkult und Uniformen in jedem Dorf präg-
ten das Bild dieses noch nie erlebten, geballt inszenierten Aktionismus, der die
Menschen die ersten Tage und Wochen beinah als Traum erleben ließ.272
Erinnerungserzählungen zu den konkreten Ereignissen am 12. März 1938
bzw. während der bewegten und bewegenden Wochen des „Umsturzes“ in den
Montafoner Gemeinden können nahezu als fixer Bestandteil der lebensgeschicht-
lichen Erzählungen der Montafoner Gewährsleute bezeichnet werden. Tenden-
ziell bemühen sich die ZeitzeugInnen bei der Beschreibung konkreter historischer
Ereignisse um eine möglichst neutrale, distanzierte Berichterstattung. Das episo-
dische Gedächtnis ermöglicht im Falle einprägsamer (historischer) Ereignisse eine
269 Dreier, Werner: Doppelte Wahrheit. Ein Beitrag zur Geschichte der Tausendmarksperre. In:
Montfort – Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs 37 (1985). S. 63–71.
Hier S. 63f.
270 Dreier: Doppelte Wahrheit. S. 69.
271 Lehmann: Reden über Erfahrung. S. 129.
272 Johler, Reinhard: Feste und Propaganda im Nationalsozialismus. In: Vorarlberger Landes-
museum (Hg.): Vorarlberg 1938. Ausstellung im Rahmen der Veranstaltungen des Gedenkjahrs
1988. Bregenz 1988. S. 141–148. Hier S. 141.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439