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ist im Rahmen der lebensgeschichtlichen Erzählungen beider Geschlechter groß,
da sie einen wichtigen Einschnitt im Leben darstellten. Nach jahrelangen Entbeh-
rungen und einer Reihe persönlicher Verluste symbolisiert die Mustererzählung
von der „unerkannten Heimkehr“ das Ende des Krieges und deutet mit ihrem
Happy-End quasi einen positiven Start in die Zukunft voraus.
3.4.26. Krieg in Vorarlberg
Mit den Erzählungen von der Heimkehr der Soldaten soll der Erzählstoff des Zwei-
ten Weltkrieges nicht abgeschlossen sein. Der Blick auf die Erlebnisse im Krieg
erfolgte bislang ausschließlich aus der Perspektive der Soldaten und damit aus der
Männerperspektive. Die Kinder und Frauen, die während dieser Jahre im Monta-
fon lebten, haben allerdings ganz andere Erinnerungen und Geschichten zu erzäh-
len.364 Hier werden eigenes Leiden und Leidensfähigkeit kaum thematisiert. Im
Gegenteil betonen die ZeitzeugInnen, dass es ihnen im Montafon auch während
des Krieges sehr gut ging – zumindest was die Versorgung betrifft. Sie betonen
immer wieder, keinen Hunger gelitten zu haben und mit dem Wenigen, das die
eigene Landwirtschaft (exklusive der vorgeschriebenen Abgaben) abwarf, sowie
mithilfe der Bezüge über die Lebensmittelmarken relativ gut gelebt zu haben.
Der 1938 geborene ZZ deutet im nachfolgenden Ausschnitt an, dass die regio-
nale Wirtschaft eigene Dynamiken entwickelte, unter anderem aufgrund derer für
die MontafonerInnen ein gutes Leben auch während des Krieges gesichert werden
konnte.
ZZ: Und die Bauern hatten es dazumal unter dem Krieg vielleicht von Butter,
Käse und Brot, wenn sie vielleicht Getreide dazumal angebaut haben, ein biss-
chen besser. Die haben dann auch so Tauschhandel gemacht. Da sind dann
Leute von Bludenz hergekommen und haben da wieder ein Speck gekauft und
dann Stoff gebracht und so. Also, das kann ich mich erinnern, dass das bei den
Bauern so zugegangen ist. Aber das haben wir nicht gehabt [als Arbeiterfami-
lie, Anm.]. Wir haben das Geld gehabt. Obwohl wir nicht reich waren, aber
wir haben nie Hunger gehabt. Also, an das kann ich mich nie erinnern. Haben
einfach gelebt. Kann man sich nicht vorstellen, gelt?
Einen großen Stellenwert in den Erzählungen über die Kriegsjahre im Monta-
fon nehmen die Berichte über Gefallenenmeldungen ein. Sie werden sehr häufig
erwähnt und – ähnlich wie die Heimkehr der Soldaten – ausführlich erinnert und
beschrieben. Das Eintreffen von Gefallenenmeldungen prägte für viele ZeitzeugIn-
nen die gesamte Kriegszeit, da im Dorf schnell bekannt wurde, wer gefallen war,
und zahlreiche Naheverhältnisse auch zu Nicht-Familienmitgliedern bestanden.
364 Dörr, Margarethe: Wie Frauen und Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten. Vorstellung eines
umfangreichen Oral-History-Projekts. In: Historicum. Zeitschrift für Geschichte (Herbst 2009 –
Winter 2009/2010). S. 11–13. Hier S. 11.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439