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400 3.4.47. Naturkatastrophen
Erzählungen über Naturkatastrophen stellen in den lebensgeschichtlichen Darstel-
lungen zumeist einen Erzählstoff dar, der als historisches Faktum in die eigene Bio-
grafie eingefügt wird. Nicht immer beschreiben die ZeitzeugInnen Erfahrungen
im Rahmen eines Naturereignisses, die für sie persönlich wichtig waren – zumin-
dest kann angenommen werden, dass besagte Erfahrung erst zu einem späteren
Zeitpunkt als wichtig bewertet wurde. Zumeist weisen die ErzählerInnen darauf
hin, wann es wo in welchem Ausmaß zu einer Katastrophe gekommen war – neh-
men damit gewissermaßen die Rolle eines/einer ChronistIn ein –, und verorten
sich anschließend selbst in Bezug auf das Ereignis.
Diese Vorgehensweise ist beispielsweise in Bezug auf die Montjola-Lawine in
den Gemeinden Bartholomäberg und Schruns im Jänner 1954 besonders häu-
fig festzustellen, die ein wichtiges Ereignis in der Montafoner Geschichte des 20.
Jahrhunderts darstellt.497 Viele ZeitzeugInnen können sich erinnern, was sie selbst
an diesem Tag erlebten oder wo sie waren, als sie von der Katastrophe erfuhren,
und bauen diesen indirekten persönlichen Bezug in die Erzählung von der Kata-
strophe ein. Die 1926 geborene WD erinnert sich beispielsweise besonders an die
Geschenke zum Weihnachtsfest unmittelbar vor dem Lawinenereignis:
WD: Ja, dann ist die Lawine gekommen im 54er Jahr, von Monteneu herunter.
[…] Und da ist der UD … […] ist er immer fest dabei gewesen, da bei dem
Leute-Heruntergraben. Da haben wir noch im alten Haus gewohnt. Das ist
gewesen abends um neun Uhr, im Jänner. Am wievielten weiß ich jetzt nicht.
[…] Im 54er Jahr. Das hat einen Schnall gemacht, alle Lichter aus. Ich bin
auf den Balkon hinauf, „of d’Veranda“498. Und da hat man schon gehört, die
Leute herunter rufen: „Hilfe, Hilfe.“ Von der Montjola herunter. Laut. „Und
eine Stockdünkli isch gsi.“499 Und da war alles schon passiert. Dann ist sie noch
weiter herunter und hat die Litzbrücke auch noch mit. Und da sind viele, viele
Leute und „Gmächr“500 und Häuser und Ställe, und alles ist kaputt gewesen.
Es ist ja gerade nach Weihnachten gewesen. Da haben sie Spielzeug gehabt.
Und die Leute sind meistens schon im Bett gewesen abends um neun Uhr,
überall. Und unser VD ist dort 1959, ja, gerade zwei Jahre alt gewesen. Da hat
er so einen schönen Brummkreisel bekommen, so einen. Der hat dann so schön
getanzt und gesungen, wenn man ihn auf dem Tisch oder auf dem Boden so
gestoßen hat. Und den hat er auch noch zusammengepackt in die Schachtel
und ins Josefsheim hinein gebracht, diesen Kindern. Da hat man überall Spiel-
zeug und Kleidung und alles gesammelt, diesen Kindern, die keine Eltern mehr
gehabt haben. Das ist diese Lawine gewesen. Furchtbar, ja. Damals. Ja, ja.
497 Vgl. Nesensohn-Vallaster, Helga: Der Lawinenwinter 1954 (= Montafoner Schriftenreihe 11)
Schruns 2004.
498 überdachter Balkon, überdachte Terasse.
499 Und stockdunkel war es.
500 Gebäude.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439