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74 lebensgeschichtliche Erzählung bildet, und auf das ungeachtet der individuellen
Lebensverläufe immer wieder zurückgegriffen wird. Ein beachtlicher Teil dieser
Erzählstoffe konstituiert sich aus sogenannten Mustererzählungen, die – wie im
vorangegangenen Kapitel bereits dargelegt wurde – durch ihre inhaltliche und
funktionale Ähnlichkeit gekennzeichnet sind und deren Inhalte schließlich auch
über Dritte (nicht persönlich betroffene ErzählerInnen) Verbreitung finden.44 Die
Musterhaftigkeit besteht dabei sowohl in stereotypen inhaltlichen Schilderungen
als auch in einem stereotypen Aufbau der Erzählung bzw. Ablauf der beschriebe-
nen Handlung. Die Analyse der Mustererzählungen fließt direkt in die Betrach-
tung der 50 Erzählstoffe ein.
Die lebensgeschichtlichen Erzählstoffe werden im Folgenden weitgehend aus
ihrem Zusammenhang der individuellen Biografien herausgenommen und als
Mustererzählungen in Hinblick auf Erzähltraditionen und Erzählstereotype unter-
sucht. Die Reihung der Themenbereiche folgt dabei einer konstruierten Chrono-
logie der Ereignisse.
3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen
Der Einstieg in die lebensgeschichtliche Erzählung fällt oftmals schwer. Die Unsi-
cherheit darüber, was das Gegenüber hören möchte und was vom eigenen Leben
überhaupt erzählenswert ist, sowie fehlende Erinnerungen an den eigentlichen
Anfang, nämlich an die Geburt und frühe Kindheit, erschweren eine spontane
Erzählung. Intuitiv wird auf die in unserer Gesellschaft hoch entwickelte Kultur
des Erinnerns und Biografierens zurückgegriffen und der Struktur einer in die
klassischen Lebensabschnitte unterteilten Normalbiografie gefolgt – analog einem
Lebenslauf, wie man ihn schon in der Schule zu schreiben lernt.45 Vielfach begin-
nen die Erzählungen nach dem Schema „Mein Name ist […], ich wurde am […]
als […] Kind meiner Eltern […] in […] geboren“. Nicht selten erfolgt im Anschluss
eine Einordnung der eigenen Familie in das dörfliche Ganze, und die Berufe und
Eigenschaften der AhnInnen – manchmal zurück bis zu den Urgroßeltern – wer-
den angesprochen. Ganz in diesem Kontext stellt der Stoff der sagenhaften Erzäh-
lungen von den AhnInnen ein beliebtes Einstiegsthema in die eigene lebensge-
schichtliche Erzählung dar. Unglaubliches oder zumindest Außergewöhnliches aus
der Familiengeschichte an den Beginn des Interviews zu stellen, erfüllt die wichtige
Funktion der Unterhaltung – und stimmt nicht zuletzt auch in der Chronologie
der Ereignisse. Der Einstieg des 1933 geborenen CC soll hier beispielhaft für viele
andere ähnliche Passagen nachgestellt werden:
CC: Eltern? Ja, das waren EC und GC. Das waren, also die Vorfahren, weil
das ist bei uns, in unserer Gemeinde, oder, da sind 1500 auf dem Friedhof im
Ort sind vergraben, C. Gelt, also das ist das größte Geschlecht, das verhältnis-
44 Vgl. Showalter, Elaine: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin 1997.
45 Löffler: Zurechtgerückt. S. 67f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439