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formt nicht seine Erlebnisse im Zuge des Erzählprozesses in Geschichten um, ganz
im Gegenteil erfolgt bereits die menschliche Wahrnehmung in Form kohärenter,
in sich geschlossener Geschichten. Diese Erkenntnis der Neurowissenschaften
unterstützt die philosophische These von der narrativen Strukturierung unserer
Lebenswelt. Geschichten bzw. Narrativität sind eindeutig Kategorien menschlicher
Lebenspraxis.34
1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografisches
Gedächtnis
Bevor es zum Schritt von der Wahrnehmung zur Speicherung im Gedächtnis
kommt, soll an dieser Stelle auf den Begriff „Gedächtnis“ und seine Rezeption
in den Kultur- und Sozialwissenschaften eingegangen werden, da umfassende
Konzepte etwa zur kollektiven, kulturellen oder kommunikativen Dimension des
Gedächtnisses vorliegen und den wissenschaftlichen Blick auf das autobiografische
Gedächtnis stark geprägt haben.
Im weitesten Sinne kann das Gedächtnis als die Art und Weise definiert werden,
in der vergangene Ereignisse zukünftiges Handeln bestimmen. Das Gehirn wird
durch Erfahrung beeinflusst und stimmt in der Folge seine Reaktionen darauf hin
ab.35 Neben dieser sehr vereinfachten neurowissenschaftlichen Definition stehen
unterschiedliche Konzepte, die das Gedächtnis in kultur- und sozialwissenschaftli-
chen Zusammenhängen interpretieren.36 Der Soziologe Maurice Halbwachs führte
in den 1920er Jahren den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ ein. Er bezeich-
nete damit die kollektive Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. Das
kollektive Gedächtnis bilde die Basis für das gruppenspezifische Verhalten ihrer
Angehörigen, indem es mit Blick auf die kulturelle Vergangenheit Bezug auf die
gegenwärtigen sozialen und kulturellen Verhältnisse nimmt.37 Eine allgemein-
verbindliche Definition für das kollektive Gedächtnis gibt es nicht, dementspre-
chend ist auch seine Erforschung unklar und umstritten. Ein breiter Strom der
Forschung konzentriert sich primär auf materielle Artefakte, während ein weiterer
Zweig das Kollektive vorzugsweise in der Erinnerung bzw. in der Interaktion in
34 Schneider, Ingo: Über das multidisziplinäre Interesse am Erzählen und die Vielfalt der Erzähl-
theorien. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Erzählkultur. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen
Erzählforschung. Berlin 2009. S. 3–14. Hier S. 8.
35 Siegel, Daniel: Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen
des Gedächtnisses. Ein Überblick. In: Welzer, Harald und Hans Markowitsch (Hg.): Warum Men-
schen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Stuttgart
2006. S. 19–49. Hier S. 20.
36 In der wissenschaftlichen Literatur zum Thema Gedächtnis und Erinnerung wird vor allem vom
autobiografischen, kollektiven, kulturellen, kommunikativen und sozialen Gedächtnis gesprochen.
Vgl. Gudehus, Christian, Ariane Eichenberg und Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinne-
rung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2010.
37 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin 19853.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439