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3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen
Neben den Geschichten, die während des Krieges immer wieder von den Vorfäl-
len an der Schweizer Grenze im Tal kursierten, wurde die Montafoner Bevölke-
rung durch die Kriegsgefangenen oder ZwangsarbeiterInnen unmittelbar mit dem
Krieg konfrontiert. Der weitaus größte Teil der ZwangsarbeiterInnen im Montafon
wurde als Arbeitskraft auf den verschiedenen Baustellen der Vorarlberger Illwer-
ke-AG eingesetzt: am Obervermuntwerk, am Rodundwerk I, am Silvrettaspeicher,
im Staubecken Latschau oder im 19 Kilometer langen Stollen von Partenen nach
Latschau. Die faktisch versklavten Arbeitskräfte setzten sich zusammen aus fran-
zösischen, polnischen und serbischen Kriegsgefangenen, verschleppten ZivilistIn-
nen vor allem aus Polen, der Ukraine oder Weißrussland sowie aus italienischen
und französischen Zivilarbeitern, die formal freiwillig gekommen waren.377
Schon in der Anfangsphase des Krieges warben die NS-Behörden – oft unter
falschen Versprechungen – Freiwillige in den von der Wehrmacht besetzten Gebie-
ten an. Aufgrund des geringen Erfolges steigerten die Behörden schließlich den
Druck oder griffen Menschen einfach auf den Straßen auf und transportierten sie
ins Deutsche Reich. Der größte Teil der zivilen ausländischen Arbeitskräfte kam
somit nicht freiwillig, sondern wurde zwangsverpflichtet und brutal verschleppt.378
Bei den Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen handelte es sich also
vor allem um Menschen, die aus jenen Ländern stammten, gegen die die eigenen
Söhne, Gatten, Väter, Brüder gekämpft hatten oder gerade kämpften. In Vorarl-
berg waren schätzungsweise 11.000 bis 12.000 Zivilpersonen und Kriegsgefangene
beschäftigt – wobei hier die sogenannten OstarbeiterInnen, von denen die meisten
aus der Ukraine stammten, den größten Anteil gestellt haben dürften.379 Zwei Drit-
tel der Kriegsgefangenen waren dem Bausektor, das heißt im Montafon auf den
Baustellen der Illwerke-AG, zugeteilt.380
Die in diesem Kapitel ausgewählten Erzählungen verdeutlichen, dass in der Erin-
nerung der ZeitzeugInnen zwischen zivilen ZwangsarbeiterInnen und Kriegsge-
fangenen nicht unterschieden wurde – bzw. wird ausschließlich von Zwangsarbei-
tern als Kriegsgefangenen berichtet. Darüber hinaus war der weitaus größte Teil
der ZwangsarbeiterInnen auf den Baustellen der Illwerke beschäftigt und befand
sich somit zumeist außerhalb des Aktions- und Gesichtsfeldes der meisten Monta-
fonerInnen. Die ZeitzeugInnen kamen daher vor allem mit ZwangsarbeiterInnen
in Kontakt, die in der Landwirtschaft eingesetzt wurden.
377 Walser, Harald: Vorarlbergs Startbedingungen in die Zweite Republik. In: Bundschuh, Werner
u.a. (Hg.): Wieder Österreich! Befreiung und Wiederaufbau – Vorarlberg 1945. Bregenz 1995.
S. 39–58. Hier S. 42.
378 Schreiber: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol. S. 180.
379 Ruff, Margarethe: Um ihre Jugend betrogen. Ukrainische Zwangsarbeiter/innen in Vorarlberg
1942–1945. (= Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 13) Bregenz 1997. S. 17.
380 Walser, Harald: Bombengeschäfte. Vorarlbergs Wirtschaft in der NS-Zeit. (= Studien zur
Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 6) Bregenz 1989. S. 240.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439